0078 - Der Todeszug
Leutnant meine Vermutung mit. »Wenn Suko an die Schienen gefesselt auf dem Bahndamm liegt, sehen wir ihn vom Wagen aus nicht. Wir müssen aussteigen und auf den Damm hinauf.«
Ich sprang aus dem Wagen und kletterte den Bahndamm hoch. Der Leutnant und der Carabiniere folgten mir. Der Leutnant hatte eine viereckige Taschenlampe in der Hand, vor deren Glas sich ein Rot- und ein Grünfilter vorschieben ließen. Solche Taschenlampen wurden bei Verkehrskontrollen verwendet.
Auf dem Bahndamm sah ich sofort Suko. Er lag nur wenige Meter von mir entfernt. Und ich erblickte noch etwas anderes. Die noch kleinen Scheinwerfer des mit hoher Geschwindigkeit aus den Bergen heranbrausenden Nachtexpresses.
Er war noch vier, fünf Kilometer entfernt, aber die würde er rasch zurückgelegen. Ein Blick auf Suko zeigte mir, daß wir ihn so rasch nicht befreien konnten, denn er war mit Ketten an die Schienen gefesselt.
Mein chinesischer Freund hatte den Kopf gehoben, konnte aber nur dumpfe Laute von sich geben, weil ein Knebel in seinem Mund steckte.
»Versuchen Sie, Suko zu befreien!« rief ich dem Leutnant und dem Carabiniere zu. Und ich schrie: »Mut, Suko!«
Hundert Meter vor mir befanden sich ein Signal und eine Weiche. Ich spurtete auf dem Bahndamm los. Da ich auf den Schwellen rennen mußte, störte es meinen Laufrhythmus und machte mich langsamer. Der Nachtexpreß brauste heran wie ein verkörpertes Verhängnis.
Größer und größer wurden die beiden Scheinwerfer der schweren Diesellok. Ich hörte die Schienen summen. Bald mußte ich das Brausen und Stampfen des Zuges vernehmen, der Suko überrollen sollte.
Ich erreichte das Hauptsignal. Es stand auf Freie Fahrt. Man konnte es mechanisch umstellen. Ich fummelte an den Stahlseilen und Hebeln herum, bis der Signalflügel nach unten klappte.
Jetzt stand das Signal auf Halt, aber der Zug war schon bis auf wenige hundert Meter heran. Das Dröhnen der Räder klang mir in den Ohren. Ich blickte zurück und sah den Leutnant die Schienen entlanglaufen.
Er schwenkte die rote Taschenlampe im Kreis. Das war das internationale Zeichen für Gefahr und sofortigen Stop im Zugverkehr. Der Carabiniere bemühte sich um Suko, konnte seine Ketten aber nicht lösen.
Mein Freund bäumte sich in seinen Fesseln und starrte dem Zug entgegen. Ich sah die grellen Scheinwerfer an der Frontseite der Lok, das helle Sichtfenster mit der Silhouette des Lokführers dahinter und die erleuchteten Abteilfenster.
Ich sprang zu der Weiche, um sie umzustellen und den Zug auf das andere Gleis umzuleiten. Jetzt, endlich, schlugen die Zugbremsen an, der Lokbremser vollführte eine Notbremsung. Das Kreischen der Bremsen gellte durch die Nacht, Funkenbahnen sprangen von Rädern und Schienen.
Aber die mehr als tausend Tonnen, die da heranbrausten, waren so schnell nicht zum Stehen zu bringen. Ich mußte den Zug umleiten. Ich riß und zerrte am Stellhebel der Weiche, aber das verdammte Ding klemmte.
Ich trat gegen das Gegengewicht, aber das nutzte auch nichts, die Weiche rührte und regte sich nicht. Diese Sekunden dehnten sich endlos lang, und ich habe sie jetzt noch plastisch in Erinnerung.
Mit infernalischem Lärm rauschte der bremsende Zug an mir vorbei. Auf Suko zu! Der Leutnant sprang von den Schienen. Gleich mußte der Zug meinen Freund erreicht haben.
»Suko!« schrie ich.
Der Zug stand. Aber ich konnte nicht erkennen, ob er noch rechtzeitig gehalten hatte. Ich rannte, ich flog förmlich am Bahndamm entlang. Die Achslager des Zuges qualmten, die Bremsen ächzten noch und zischten.
Ich lief den Bahndamm hoch. Da lag Suko vor mir, fast unter der Lok. Der Carabiniere stand bereits wieder neben ihm. Suko war unter seiner gelben Haut so bleich wie ein Bettuch. Denn der Zug hatte wirklich nur um Haaresbreite vor ihm gestoppt.
»Mann, Suko!« schrie ich. »Das war aber knapp! Da bist du dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.«
Der Chinese schluckte und bewies, daß er stählerne Nerven hatte.
»Was regst du dich so auf, John?« fragte er. »Zwischen meinem Kopf und dem vordersten Rad sind noch gut zwanzig Zentimeter Platz.«
***
Suko zu befreien, war mit den Geräten aus dem Werkzeugkasten des Zuges nicht mehr schwer. Der Lokführer, der wie der Heizer, der Schaffner und ein paar Fahrgäste ausgestiegen war, stammelte Dankgebete zur Mutter Gottes.
Denn fast hätte er einen Menschen überfahren. Wir bedankten uns bei ihm für sein schnelles und umsichtiges Bremsmanöver. Vom Bahnhof
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