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0083 - Als die Knochenreiter kamen

0083 - Als die Knochenreiter kamen

Titel: 0083 - Als die Knochenreiter kamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.F. Morland
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Eheschließungen im Dorf. Er handelte damit im Auftrag der Regierung und hatte für die amtliche Registrierung zu sorgen.
    Alle im Dorf hörten auf den Rat des weisen Mullah. Der Mann mit dem langen grauen Bart nahm Chana daraufhin ins Gebet, doch auch er erreichte bei dem Mädchen nichts. Chana blieb dabei: »Ich will nach Teheran gehen und dort mein Glück versuchen.«
    Da hatte der Mullah zu Chanas Vater gesagt: »Laß sie ziehen. Du würdest sie unglücklich machen, wenn du sie mit der Gewalt deiner väterlichen Autorität zurückhalten würdest.«
    »Wäre es nicht besser, wenn sie hier unglücklich ist? In der fernen Stadt können wir ihr nicht beistehen.«
    »Du hast doch auch deinen Sohn in die Stadt gehen lassen.«
    »Das ist etwas anderes. Chana ist ein Mädchen. Sie wird unter die Räder kommen.«
    »Sie wird sich in der Stadt entweder behaupten oder in unser Dorf zurückkehren«, hatte der Mullah daraufhin erwidert.
    Und Chana bekam auf ihren Weg in die ferne Stadt den väterlichen Segen mit. Als sie das Dorf verließ, blieb ihre Mutter weinend in dem kleinen Lehmziegelhaus.
    Chana ging in die große weite Welt hinaus.
    Es kostete sie viel Mühe, ihren Bruder in Teheran aufzufinden. Er war nicht erfreut über ihr Erscheinen und trachtete, sie so rasch wie möglich wieder abzuschieben. Ihr Glück hatte sie sich anders vorgestellt. Niemand wollte ihr Arbeit geben. Die meisten Männer wollten nur mal mit ihr schlafen, und auf einige, die es besonders geschickt anstellten, fiel das unerfahrene Mädchen auch tatsächlich herein.
    Tabe Hamad war einer von ihnen.
    Chana hatte gedacht, endlich einen Beschützer gefunden zu haben.
    Hamad war kein schöner Mann, aber er vermittelte ihr das Gefühl, daß sie zu ihm gehörte. Doch bald erkannte Chana sein wahres Gesicht.
    Die Affäre ging zu Ende.
    Chana begann von Hand zu Hand zu gehen, und sie nahm Geld für gewisse Liebesdienste, um sich über Wasser halten zu können.
    Als einer ihrer Freunde sie schließlich auf die Straße schicken wollte, wußte sie, daß sie dem »Gegner« Teheran nicht gewachsen war.
    Sie entschloß sich, die Stadt wieder zu verlassen.
    Tabe Hamad kreuzte in diesen Tagen noch einmal ihren Weg, und so erfuhr er von ihrem Entschluß, in die Einsamkeit des Elbursgebirges zurückzukehren.
    Himmel, war das eine Freude, als sie im Dorf ankam. Chanas Vater schlachtete zehn Hammel und gab ein großes Fest. Er rannte auf seinen krummen Beinen zum Mullah und schrie sich vor Freude die Seele aus dem Leib: »Chana ist wieder da. Chana ist zurückgekehrt!«
    Sie war um einige Jahre älter geworden, war ernster geworden, wirkte reifer und hatte begriffen, daß die Welt außerhalb dieses Dorfes keinen Platz für sie hatte. Sie hatte verstanden, daß sich der Mensch bescheiden muß, und daß das Glück nicht aus Autobussen, Telefonen, Kinos und Fernsehapparaten besteht.
    Im selben Jahr trafen Chana zwei schwere Schicksalsschläge.
    Vater und Mutter starben kurz hintereinander.
    Die Dorfbewohner mieden sie. Man war der Meinung, sie hätte Schuld am Tod ihrer Eltern, die der Kummer der langen Trennung ins Grab gebracht hatte.
    Von da an lebte Chana in einer quälenden Isolation. Niemand wollte mehr mit ihr sprechen. Wohin sie kam, bemerkte sie vorwurfsvolle Blicke. Man verzieh ihr nicht, daß sie das Dorf verlassen hatte. Gut, sie war zurückgekommen. Aber zuvor war sie von hier weggegangen. Ein Mensch, der imstande war, das heimatliche Dorf und die weinenden Eltern zu verlassen, konnte kein Herz in der Brust haben. Und ein Mensch ohne Herz war kein Umgang.
    Nur der Mullah sprach noch mit Chana. Er versuchte ernsthaft Verständnis bei den anderen Dorfbewohnern für sie zu erwirken, sprach jedoch überall zu tauben Ohren.
    Chana litt unter dieser Einsamkeit.
    Was war dem hoffnungsvollen Mädchen von einst geblieben? Ein leeres, einfaches Lehmziegelhaus. Ein paar Hühner. Eine kleine Hammelherde. Ein paar Ziegen und zwei Esel.
    Chana stand vor dem Spiegel und kämmte das lange volle Haar.
    Sie befand sich in einem widersprüchlichen Dilemma. Sie gehörte nicht mehr in dieses Dorf, aber sie gehörte auch nicht in die Stadt.
    Wo, um Allahs willen, gehörte sie denn hin?
    Ihre Hand hielt still. Aus den groben Kammzähnen flatterte das Haar heraus. Chana betrachtete ihr hübsches Gesicht, das von einem Schatten der Melancholie getrübt war.
    Irgendwann – das wurde ihr immer klarer – würde sie dieses Dorf wieder verlassen, würde es verlassen müssen, weil

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