0084 - Das Buch der grausamen Träume
Kirche und keinen Gasthof. Nur einen alten Brunnen, aus dessen Mitte ein Sockel ragte. Darauf stand eine Steinfigur. Sie zeigte eine Frau.
Selbst bei diesem Licht konnte ich die Hexe erkennen. Sie sah überaus häßlich aus, obwohl sie jung war. Sie hatte die steinernen Arme ausgestreckt und hielt in der rechten Hand den Kopf eines Ziegenbocks. Das Abbild des Teufels, denn die Hexen dienten dem Herrn der Finsternis mit Hingabe.
Sukos Beinfesseln wurden ebenfalls durchgeschnitten. Dann traten die Männer zurück.
Unter ihnen erkannte ich auch die, die uns auf dem Weg angegriffen hatten. Sie hielten ihre Stöcke noch umklammert, starrten uns böse an, während ich in den Gesichtern der anderen nichts las, was auf eine offene Feindschaft schließen ließ. Davon ließ ich mich jedoch nicht täuschen. Ich wußte, daß diese Gleichgültigkeit schnell in Haß umschlagen konnte, wenn es die Situation erforderte.
Auch über dem Ort schwebte dieser faulige Geruch, der so typisch für die Sumpfnähe ist.
Niemand sprach ein Wort. Alle warteten. Die Stille wurde drückend. Ich vernahm kaum das Atmen. Dann hörten wir Schritte.
Überlaut klangen sie, denn diese Holzpantinen erzeugten klackende Geräusche auf dem Kopfsteinpflaster. Die Spannung wuchs.
Ich lehnte mich etwas zurück. Mein Jackett spannte sich vorn, und ich spürte den Druck der Beretta. Die Pistole hatten sie mir gelassen.
Warum? Waren sie ihrer Sache so sicher, oder hatten sie vergessen, nach einer Waffe zu suchen?
Es war mir im Moment egal. Hauptsache, ich behielt die Beretta. Damit sah die Zukunft nicht ganz so schlimm aus. Mehrere Männer traten zur Seite und öffneten eine Gasse für den Ankömmling, dessen Schritte ich gehört hatte. Er schien eine Respektsperson in diesem Ort zu sein, denn die Männer behandelte ihn äußerst ergeben. Dabei war der Mann vom ersten Eindruck her eigentlich eine komische Figur. Vom körperlichen Wuchs klein, erinnerte er mich an einen Zwerg. Im Gegensatz dazu stand sein Kopf mit der spiegelblanken Glatze, dem runden Gesicht und den kleinen, tückischen Augen sowie dem grausam verzogenen Mund. Vor diesem Zwerg mußten wir uns in acht nehmen. Zwei Schritte vor uns blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und starrte uns an.
Wir hielten dem Blick stand. Ich ließ ihn sogar noch weiter nach unten wandern. Der Zwerg trug eine weite Hose, darüber eine kittelähnliche Joppe und die unvermeidlichen Holzschuhe an den kleinen Füßen. »Wer seid ihr?« fragte er.
Ich antwortete. »Besucher, die nach Horlin kommen wollten, um sich einmal den Ort anzuschauen.«
Der Zwerg lachte kichernd. »Das glaube ich nicht. Ich als Bürgermeister hätte davon gewußt, sogar wissen müssen.«
»Entschuldigen Sie, daß wir uns vorher nicht angemeldet haben, aber wir dachten, in einem freien Land zu leben, wo jeder hinfahren könne, wohin er wolle.«
Der Zwerg machte eine unwirsche Handbewegung. »Lüg mich nicht an!« zischte er. »Ich weiß genau, weshalb du gekommen bist. Du willst das Buch.«
»Welches Buch?«
Der Zwerg kicherte. »Tu nicht so, du lügst schlecht, Mister. Sag mir, wie du heißt.«
»John Sinclair.«
»Und dein Freund?«
»Ich heiße Suko«, sagte der Chinese, »und ich rate dir, dir diesen Namen gut zu merken.«
Der Zwerg stampfte mit dem Fuß auf, knirschte vor Wut mit den Zähnen. »Das große Maul wird dir noch vergehen, Schlitzauge. Los, zeigt es ihm!«
Darauf hatten die Männer nur gewartet. Zwei Knüppel pfiffen durch die Luft. Rechts und links trafen sie Suko in Höhe der Schulter, doch der Chinese verzog keine Miene. Der Zwerg war erstaunt. Seine Mundwinkel zuckten. Er hatte wohl damit gerechnet, daß Suko anfangen würde zu schreien, doch der Chinese war ein harter Knochen.
Ich wechselte das Thema. »Machen Sie das mit allen Fremden, die Ihr Dorf besuchen?« fragte ich.
Der Bürgermeister schaute mich wieder an. »Hier kommen kaum Fremde her.«
»Und wenn sie doch einmal da sind?«
Jetzt lachte der Zwerg und rieb sich die Kinde. Es hörte sich an, als würde Papier rascheln. Auch die anderen Männer stimmten in dieses Lachen mit ein, bis der Zwerg ihnen Einhalt gebot.
»Die anderen, die sich hier sehen lassen, haben das gleiche Ziel wie ihr, Das wissen wir. Da wir es wissen, werden wir sie nicht enttäuschen. Wir geben ihnen zu sehen, was sie sehen wollen, und anschließend bleiben sie dann für immer bei uns.«
Diese Antwort gefiel mir überhaupt nicht. »Als Tote?« fragte ich lauernd.
Wieder
Weitere Kostenlose Bücher