0084 - Das Buch der grausamen Träume
Männer zu befreien, doch die Hände wirkten wie stählerne Klammern.
Genns Augen waren blutunterlaufen. Schaum stand vor seinem Mund. Er mußte mit ansehen, wie der Alte zur Seite trat, einige an der Hüttenwand aufgestellte Schilfrohre wegräumte und eine Machete in die Hand nahm.
Die Blicke des Henkers und des Opfers kreuzten sich.
Teilnahmslos schaute McKenzie, voller Angst und Entsetzen der andere.
Eine Hand packte Leos Nacken, beugte den Kopf nach unten.
Plötzlich gab Leo Genn jeden Widerstand auf. Er merkte nicht, daß die beiden Männer zurücktraten. Das letzte, was er in seinem Leben vernahm, war das Pfeifen der niedersausenden Klinge…
***
Mit gestrecktem Körper tauchte ich in das Wasser ein und fühlte sofort die Kälte, die in meine Haut biß. Da ich wußte, daß meine Verfolger zumindest eine Waffe bei sich trugen, erschien es mir ratsam, vorerst unter Wasser weiterzuschwimmen. Das war gar nicht so einfach. Als sehr tief konnte man den Fluß nicht bezeichnen. Höchstens sechs Fuß. Außerdem war er verschlammt und voller Algen sowie kleineren Zweigen und zahlreichen abgefallenen Blättern. Ich hielt die Luft an und bewegte mich mit kräftigen Schwimmstößen weiter.
Meine Kleidung hatte sich längst vollgesaugt. Sie wurde schwer, hinderte mich am Schwimmen.
Kleinere Strudel packten mich und wollten mich mitreißen. Ich war stärker und entging ihnen.
Ich weiß nicht, wie lange ich unter Wasser blieb, aber der Luftmangel zwang mich aufzutauchen.
Mein Kopf schoß an die Oberfläche. Sofort öffnete ich den Mund und saugte die kalte Luft ein. Dabei glitt mein Blick automatisch am Ufer entlang. Es war leer.
Keine Spur mehr von den Verfolgern. Ich vernahm zwar noch das Kläffen der Hunde, aber das war weit entfernt. Ich befand mich erst einmal in Sicherheit. Allerdings in einer trügerischen.
Lange konnte ich nicht im Wasser bleiben. Wir hatten bereits Oktober, und da wurden die Nächte ziemlich kühl. Ich bewegte mich auf das Ufer zu, von dem aus ich in den Fluß gehechtet war. Schon bald fanden meine Füße Grund. Die Schuhe versanken im Schlamm. Zwischen meinen Fingern spürte ich schleimartige Pflanzen.
An einem über dem Fluß hängenden Stamm hielt ich mich fest und kletterte aufs Trockene.
Ich war naß bis auf die Haut und fror. Ob ich wollte oder nicht, meine Zähne begannen zu klappern, sie schlugen hart aufeinander, so daß ich das Gefühl hatte, dieses Geräusch müßte meilenweit zu hören sein.
Wenn ich nichts dagegen tat, war es leicht möglich, daß ich mir eine Lungenentzündung zuzog. Ich fing mit Gymnastik an.
Machte Kniebeugen, schlug mit den Armen um mich, ging über zu Liegestützen, und schon bald merkte ich, daß ich trotz der Kälte ins Schwitzen geriet.
Irgendwann sank ich ermattet zu Boden, in der Hoffnung, eine Lungenentzündung verhindert zu haben. Jetzt war guter Rat teuer. Wie ging es weiter? Natürlich mußte ich Julia de Fries und Suko heraushauen. Ich rief mir die Worte des Bürgermeisters ins Gedächtnis zurück.
Sie wollten mit Julia de Fries die Hexenprobe machen. Das hieß nichts anderes, als daß sie sich in die Nähe des Flusses begeben würden. Für dieses »Spielchen« brauchten sie einen Wasserlauf. Mit anderen Worten: Sie mußten bald auftauchen. Nur – wo sollte die Hexenprobe stattfinden?
Das Ufer war lang. Es gab zahlreiche Stellen, an denen sie ihr grausames Vorhaben durchfuhren konnten. Gedanken über unsere Flucht machte ich mir nicht. Erst mußten Suko und das Mädchen befreit werden, anschließend wollte ich mich um das geheimnisvolle Buch kümmern. Ich bewegte mich am Ufer entlang. Dabei hielt ich immer Ausschau nach einem Licht oder einem Orientierungspunkt. Wenn mein Blick zum Dorf hinflog, sah ich den schwachen rötlichen Widerschein der Fackeln über das Land geistern. Sie waren also noch da. Ich blieb stehen.
Es war nicht ruhig in meiner unmittelbaren Umgebung. Ich vernahm das Rauschen des Flusses und hörte die Stimmen der Nachttiere. Irgendwo in meiner Nähe quakten Frösche. Ich vernahm das satte Rülpsen der Kröten und achtete auch auf den Schrei des Käuzchens, der klagend in der Luft zitterte.
Das Käuzchen war der Totenvogel. Wenn es schrie, geschah ein Unglück. So der Volksmund.
Hinter dem jenseitigen Ufer lag der Sumpf. Für mich war er eine schwarzgraue Fläche, da kein Mond- oder Sternenlicht die Erde berührte. Am Himmel segelten dunkle Wolken, und ein kühler Wind blies über das flache Land.
Immer wieder
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