0088 - Der Guru aus dem Totenreich
nicht.
Ein anderer hatte ihm die verbotenen Atharvavedas, die Zauberformeln, zugeführt. Nicht vollständig. Denn derjenige, der Sadhu Shandri an die Front jagte, wußte um das volle Geheimnis des Drachengottes.
Sadhu Shandri war ein Verblendeter. Und als solcher würde er sterben. Ein heiliger Mann, der sich noch nie im Leben etwas zuschulden hatte kommen lassen, mußte das letzte Opfer Rudrasvins sein.
Die mit langen Fingernägeln bewehrten Hände des Sadhu gruben sich in das eingefallene Erdreich. Er grub wild und wilder. Mit gespreizten Schenkeln.
Erde und Grasnarben flogen dazwischen davon. Der Sadhu wußte genau, wo er beginnen mußte.
Der Mond stieg höher. Eine Stunde verstrich. Und Sadhu Shandri grub. Immer tiefer kraulten seine Hände. Sämtliche Fingernägel waren abgebrochen. Wie besessen wühlte er sich weiter hinein in den Boden.
Die Grube wurde einen Meter tief. Eineinhalb Meter.
Dann schluchzte der heilige Mann auf.
Seine Finger ertasteten verfaultes Holz.
Die Falltür ließ sich nicht mehr heben. Unter dem Druck der Handballen brach sie ein. Der heilige Mann griff ins Leere. In fieberhafter Eile räumte er das morsche, verfaulte Holz beiseite. Modergeruch schlug ihm aus der Tiefe der Gruft entgegen.
»Rudrasvin?« fragte der ausgemergelte Mann in die Höhlung hinein.
Keine Antwort.
»Rudrasvin? Ich komme.«
Beklemmende Stille.
Sadhu Shandri arbeitete weiter, bis er sich einen Durchlaß geschaffen hatte, durch den er seinen abgemagerten Körper zwängen konnte.
Schwarz gähnte das Loch unter ihm.
Der heilige Mann steckte zuerst die Füße hinein, balancierte Augenblicke lang mit seinem Rumpf, ließ sich fallen.
Er kam weich auf. Sehr weich. Wie auf einem Moospolster.
Doch seine Sohlen trafen auf einen glitschigen Schwamm. Sadhu Shandri rutschte aus und lag lang.
Er hatte sich den Kopf etwas angestoßen. Halb benommen richtete er sich wieder auf. Sadhu Shandri sah nichts mehr. Nur das Rechteck über ihm spendete ein wenig Licht.
Der heilige Mann brauchte keinen Führer. Zielstrebig ging er auf den mittleren von drei Gängen zu, die aus der Kammer, in die er geraten war, mündeten. Die Stimme in ihm war wieder da. Sie sagte ihm, wohin er sich wenden sollte.
Fünfzig Meter weit führte der Gang geradeaus. Dann zwei weitere Abzweigungen. Sadhu Shandri nahm die linke. Höhere Mächte leiteten ihn.
Der Gang führte leicht abwärts, wurde steiler.
Sadhu Shandri kam ins Laufen. Hell tippelten seine nackten Sohlen im Widerhall. Er kam seinem Ziel nah und näher.
Eine Grotte.
Eine riesengroße Grotte.
Groß wie ein Dom und genauso hoch.
In der Mitte ein steinerner Sarkophag. Sadhu Shandri rannte auf ihn zu.
Doch kurz davor stoppte er.
Der Sarkophag war von einer Grube umgeben. In ihr ringelten sich giftige Schlangen. Schwarze Mambas und Kobras. Die gefährlichsten Reptilien, die auf dem indischen Subkontinent heimisch waren.
Sekundenlang verharrte Sadhu Shandri. Er forschte in sich, ob ihn ein Gefühl der Panik beschleichen würde. Es blieb aus. Die sich ringelnden schuppigen Körper schienen ihm vertraut wie ein Stock, auf den er sich während langer Wanderjahre stützte.
Die Grube war etwa zwei Yards tief. Eine steile Steintreppe führte hinab und auf der Sarkophagseite wieder hinauf. Sadhu Shandri zögerte nicht länger.
Langsam setzte er zuerst den einen Fuß auf die Stufen, dann den anderen. Die Schlangen krochen auf ihn zu. Düsteres, rotes Licht lag über der unwirklichen Szenerie. Es drang aus den Felswänden, aus Ritzen am Boden und aus den vielen Nischen, von denen die Seiten des domartigen Gewölbes durchbrochen wurden.
Direkt von oben fiel ein grünlicher Strahl genau auf den steinernen Sarg, badete ihn in einem fluoreszierenden Schein.
Sadhu Shandri setzte seinen Fuß inmitten des sich windenden und züngelnden Gewirrs von Schlangenkörpern. Die Reptilien zischten zwar und rissen ihre Mäuler mit den spitzen, nach hinten stehenden Zähnen weit auf, doch sie bissen den heiligen Mann nicht. Sadhu Shandri bahnte sich einen Weg durch die Reptilien, die sich um seine Beine wanden und an ihnen heraufkrochen wie ungeheuer schnell wachsende glitschige Dschungelpflanzen. Dann hatte er die Grube durchquert, stieg auf der anderen Seite wieder hinauf.
Er vermeinte ein Flüstern und Murmeln zu hören, das lockend und einschmeichelnd in seinen Ohren klang. Sadhu Shandri kletterte auf den steinernen Sarkophag, auf dessen wuchtigen Deckel geheimnisvolle Zeichen gemeißelt waren.
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