01 Arthur und die vergessenen Buecher
Wandregale bogen sich unter Hunderten von Buchskeletten unterschiedlichen Alters, mit teilweise eingerissenem oder fehlendem Rücken, dunklen Wasserflecken auf dem Einband und anderen Spuren, welche die Zeit hinterlassen hatte.
Aus dem Schatten im Hintergrund des Ladens löste sich eine gebückte Gestalt. Es war ein vielleicht 60-jähriger Mann. Er trug einen grauen Anzug und ein weißes Hemd, das unter dem Kinn von einer leuchtend roten Fliege abgeschlossen wurde. Sein volles graues Haar war in wuchtigen Wellen nach hinten gekämmt, und aus dem hageren Gesicht blitzten zwei braune Augen über einer etwas zu groß geratenen Nase.
»Ah, ah«, murmelte er, als er uns sah. »Ihr müsst Larissa und Arthur sein. Wir haben uns schon Sorgen um euch gemacht.«
»Dann sind Sie Herr van Wolfen«, stellte ich fest.
Er nickte eifrig. »Natürlich, natürlich.« Inzwischen war er um den Tisch herum geschlurft und streckte uns seine Hand entgegen. Er war gewiss ein Meter neunzig groß, wirkte aber durch seine gebeugte Haltung viel kleiner.
»Willkommen in Amsterdam«, sagte er, während er Larissas Arm auf und ab pumpte. »Dein Großvater hat bereits mehrmals angerufen. Ihr müsstet doch eigentlich schon vor drei Stunden hier gewesen sein.«
»Wir sind ein wenig aufgehalten worden«, sagte Larissa.
»So, so«, nickte er. Jetzt war mein Arm der Pumpenschwengel. »Aber das könnt ihr mir gleich erzählen, bei einer schönen Tasse Tee.«
Er ließ meine Hand frei, verschloss die Ladentür und nahm Larissas Koffer.
»Folgt mir, folgt mir«, sagte er und bewegte sich zu der Ecke, aus der er aufgetaucht war. Ich musste meine Tasche natürlich selber schleppen. Hinter einer kleinen Theke führte eine schmale Treppe in den ersten Stock. Ächzend zog van Wolfen den Koffer hinter sich hoch. Ich folgte ebenso ächzend hinter Larissa.
Wir gelangten in einen kleinen Flur, von dem aus mehrere Türen abgingen. »Jan!«, rief van Wolfen. » Onzere bezoekers zijn da! «
Eine Türe am Ende des Gangs öffnete sich. Heraus trat eine weitere hagere und gebückte Gestalt, allerdings nicht im Anzug, sondern mit einer Küchenschürze vor dem Bauch. Mit wenigen Schritten war er bei uns. Dann begann das Pumpen erneut. Sein Händedruck war allerdings nicht ganz so fest wie der van Wolfens, und ich konnte meine Hand nach wenigen Auf- und Abbewegungen befreien.
»Wir haben uns schon solche Sorgen gemacht!«, wiederholte er van Wolfens Worte. »Kommt, der Tee ist fertig. Ihr müsst doch sicher todmüde sein.«
»Jan und ich leben schon seit vielen Jahren zusammen«, erklärte van Wolfen, während wir Jan in eine überraschend große Küche folgten. »Er kümmert sich um den Haushalt und hilft mir bei den Abrechnungen. Beides ist nicht gerade meine Stärke«, fügte er mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu.
Endlich konnte ich meine Tasche abstellen. Wir setzten uns um einen hölzernen Küchentisch, auf dem bereits ein prächtiger Apfelkuchen und eine Schale mit Sahne auf uns warteten. Jetzt merkte ich erst, wie hungrig ich war. Die Aufregung der letzten Stunden hatte mich ans Essen überhaupt nicht denken lassen.
Larissa musste dasselbe empfinden. »Hmmm«, schwärmte sie. »Das duftet ja gut.«
Van Wolfen tat jedem von uns ein Stück Kuchen auf, während Jan aus einem Kessel heißes Wasser in eine bauchige blaue Teekanne goss, die er dann mit zum Tisch brachte.
»Jan macht das beste appelgebak in ganz Amsterdam«, sagte van Wolfen. Der so Gelobte errötete und beschäftigte sich damit, jedem von uns einen großen Berg Sahne auf den Teller zu schaufeln.
Nachdem Larissa und ich jeder zwei Stück Apfelkuchen mit Sahne vertilgt und eine Tasse des exotisch schmeckenden Tees getrunken hatten, lehnten wir uns zufrieden zurück. Ich hätte jetzt gern ein Nickerchen gehalten, merkte aber, wie van Wolfen und Jan vor Neugier platzten. Sie hatten sich, während wir aßen, mit Fragen zurückgehalten. Aber jetzt mussten wir erzählen.
Also berichteten wir von unseren Erlebnissen im Zug und nach der Ankunft in Amsterdam. Unsere Gastgeber hörten uns aufmerksam zu, unterbrachen uns nur manchmal mit einer kurzen Nachfrage.
»Das war sehr mutig und klug von euch«, lobte uns Jan, als wir mit unserer Erzählung fertig waren.
Ich sah ihn mir zum ersten Mal etwas genauer an. Er besaß nicht nur die Statur seines Lebensgefährten, sondern war auch etwa im gleichen Alter. Doch während van Wolfens Gesicht mit seinen vielen Falten eher einen sorgenzerfurchten
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