01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
nehmen Sie das Recht, mir Vorwürfe zu machen? Oder vielleicht«, er lächelte wieder, »sollte ich mich lieber fragen, wieso ich mich verpflichtet fühle, mich vor Ihnen zu rechtfertigen. Irgend etwas ... zwingt mich, Ihnen gegenüber ehrlich zu sein. Ich verstehe das nicht.«
Hannah wandte sich von ihm ab. Sie stand am Scheideweg, sie mußte sich entscheiden. Jetzt zu sprechen, erforderte mehr Mut als alles andere, was sie je in ihrem Leben getan hatte. Er hatte ihr den perfekten Einstieg geliefert, und dennoch blieb sie stumm, und ihr Geist war wie erstarrt. Sie zwang sich zu atmen. Und nach einem langen Augenblick des Schweigens begann sie stockend zu sprechen, aber die Worte, die sie sagte, hatten keine Ähnlichkeit mit denen, die sie vorbereitet hatte.
»Sie hätten mich mit sechzehn sehen sollen, Patrick. Zu groß, zu knochig, nur Arme und Beine und linkische Bewegungen. Kein Junge zeigte auch nur das geringste Interesse an mir, bis mich eine Schulfreundin in den großen Ferien mit nach Hause nahm und ihr älterer Bruder sich meiner erbarmte. Er kann höchstens neunzehn gewesen sein, aber ich fand ihn toll, in meinen Augen war er ein weitläufiger Gentleman. Ich war neugierig und fühlte mich geschmeichelt, und er war sehr ungeschickt - aber das wußte ich damals nicht, ich fand nur alles ziemlich enttäuschend.«
Sie drehte sich halb herum und riskierte einen Blick auf sein verwundertes Gesicht, ehe sie fortfuhr.
»Natürlich waren die Konsequenzen solcher... solcher Dummheit und Naivität unausweichlich. Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich es für mich war, meinen Eltern sagen zu müssen, ich sei schwanger. Meine Eltern ... sie hatten für Fehler kein Verständnis. Ich war bereits für das folgende Jahr an der Universität angenommen. Daß ich das Kind vielleicht behalten könnte, war für sie undenkbar. Und ich - ich hatte nicht den Mut, mich ihnen entgegenzustellen. Ich hätte es schaffen können. Ich hätte von der Schule abgehen und mir eine Stellung suchen können. Irgend etwas hätte ich bestimmt arbeiten können.«
Hannahs Stimme war lauter geworden. Sie merkte, daß sie wieder zu zittern begonnen hatte, und kreuzte die Arme fest über ihrer Brust. Dann sprach sie weiter, ruhiger jetzt. »Es wurde alles sehr diskret abgewickelt. Ich ’ fuhr zu einer Tante. Als das Kind geboren war, ein kleiner Junge, brachten meine Eltern ihn weg. Sie sagten, sie hätten ein gutes Zuhause für ihn gefunden.«
Hannah drehte sich jetzt ganz herum, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sie senkte die Arme, als wollte sie sich vor ihm entblößen. »Erst im vergangenen März, als mein Vater starb und ich Einsicht in seine persönlichen Unterlagen bekam, fand ich heraus, was sie tatsächlich getan hatten. Mein Vater - er war Anwalt, sagte ich das? - hatte unter seinen Mandanten ein Ehepaar Rennie, das unbedingt ein Kind wollte. Selbstverständlich hat mein Vater ihnen niemals gesagt, daß er ihnen seinen eigenen Enkel gebracht hat. Ein glattes, sauberes Geschäft.« Hannah unterdrückte angestrengt den plötzlichen hysterischen Wunsch zu lachen. »Und wissen Sie das Schlimmste von allem? Mein Vater hat die ganzen Jahre mit ihnen Kontakt gehalten, und ich hatte keine Ahnung. Ihre Eltern haben ihm Ihre Schulzeugnisse geschickt - Fotos von Patricks erstem Kricketspiel, Patricks erstes Pony -, und ich habe nichts davon je zu Gesicht bekommen. Für ihn waren Sie ein realer Mensch, aber ich... mir war das nie vergönnt.«
Die Worte gingen ihr aus. Sie hatte keine Rechtfertigung mehr anzubieten. Zum erstenmal seit sie zu reden begonnen hatte, sah sie ihn direkt an. Erst als sie die bleiche Stille seines Gesichts sah, erkannte sie, wie ungerührt er geblieben war, als sie ihn mehr oder weniger des Mordes beschuldigt hatte.
Die Stille dröhnte in ihren Ohren. Sie konnte sich nicht erinnern, wann das Knattern des Rasenmähers aufgehört hatte.
Patrick schluckte. »Was... ich kann das nicht glauben. Sie sollen meine Mutter sein?« Seine Stimme war ungläubig, ausnahmsweise einmal nicht beherrscht. »Das kann nicht sein. Sie sind zu jung...«
»Nein, das bin ich nicht, Patrick. Ich war ja praktisch noch ein Kind.«
Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Sie...«
»Weshalb sollte ich dich belügen? Welchen Grund sollte ich haben, dir das zu erzählen, wenn es nicht wahr wäre?«
Er gab nach. »Aber ihn habe ich gekannt. Ihren Vater. Er hat Dad und mich
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