01_Der Fall Jane Eyre
würde?
»Und ob«, sagte eine Frau zu ihrer Begleitung, als ich an ihnen
vorbeiging, »Landen und Daisy sind verliebt bis über beide Ohren!«
Ich schlich im Schneckentempo weiter, in der heimlichen Hoffnung,
daß ich vielleicht zu spät gekommen wäre und mir die Last der
Entscheidung auf diese Weise abgenommen worden sei. Die Kirche
war bis auf den letzten Platz besetzt, und ich schlüpfte unbemerkt
hinein und versteckte mich im Schatten des Taufsteins. Vorn standen
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Landen und Daisy, umringt von einer kleinen Schar Brautjungfern und
Helfern. Viele Gäste trugen Uniform, Landens alte Kameraden aus
dem Krimkrieg. Eine Frau, die ich für Daisys Mutter hielt, schniefte in
ihr Taschentuch, und ihr Vater sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.
Landens Mutter saß allein auf der anderen Seite.
»Ich ersuche und ermahne euch«, sprach der Pfarrer, »vorzutreten
und die Stimme zu erheben, so einem von euch ein Ehehindernis
bekannt ist, oder aber für immer zu schweigen.«
Er hielt inne, und mehrere Gäste rutschten unruhig hin und her. Mr.
Mutlar, dessen fehlendes Kinn ein wulstiger Specknacken mehr als
wettmachte, schien sich nicht allzu wohl zu fühlen und blickte nervös
um sich. Der Pfarrer wandte sich an Landen und wollte eben
fortfahren, als von hinten eine Stimme laut und deutlich sagte:
»Die Trauung darf nicht fortgesetzt werden: Ich erkläre hiermit, daß
ein Ehehindernis besteht!«
Hundertfünfzig Köpfe drehten sich nach dem Sprecher um. Einer
von Landens Freunden lachte, er hielt das Ganze für einen Scherz.
Daisys Vater wollte sich das nicht bieten lassen. Mit Landen hatte
seine Tochter einen guten Fang gemacht, und ein geschmackloser
Witz durfte die Trauung nicht stören.
»Fahren Sie fort!« befahl er mit Donnerstimme.
Der Pfarrer blickte vom Sprecher zu Daisy und Landen und von dort
weiter zu Mr. Mutlar.
»Ich kann erst fortfahren, wenn feststeht, ob der Einspruch
berechtigt ist oder nicht«, sagte er mit gequältem Gesicht; so etwas
hatte er noch nie erlebt.
Mr. Mutlars Gesicht hatte eine äußerst ungesunde tiefrote Färbung
angenommen, und wäre er in seiner Nähe gewesen, hätte er den
Sprecher wahrscheinlich verprügelt.
»Was soll dieser Unfug?« brüllte er statt dessen, worauf ein Raunen
durch die Bänke ging.
»Unfug, Sir?« erwiderte der Sprecher mit klarer Stimme. »Bigamie
läßt sich wohl schwerlich als Unfug bezeichnen.«
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Ich starrte Landen an, den diese Wende der Ereignisse sichtlich
verwirrte. War er etwa schon verheiratet? Ich konnte es nicht fassen.
Ich wandte mich nach dem Sprecher um, und mir stockte das Herz. Es
war Mr. Briggs, der Anwalt, den ich zuletzt in der Kirche in
Thornfield gesehen hatte! Plötzlich hörte ich etwas rascheln, und als
ich mich umdrehte, stand Mrs. Nakijima neben mir und hob lächelnd
einen Finger an die Lippen. Ich runzelte die Stirn, und der Pfarrer
sprach weiter.
»Welcher Art ist denn das Hindernis? Vielleicht läßt es sich ja
beseitigen oder erklären oder irgendwie aus der Welt schaffen?«
»Schwerlich«, lautete die Antwort. »Ich habe es unüberwindlich
genannt, und ich pflege meine Worte mit Bedacht zu wählen. Es
besteht schlechtweg in einer früheren Ehe.«
Landen und Daisy sahen sich fragend an.
» Verdammt noch mal, wer sind Sie? « fragte Mr. Mutlar. Er schien
vor Wut beinahe platzen zu wollen.
»Mein Name ist Briggs, ich bin Anwalt in der Dash Street zu
London.«
»Tja, Mr. Briggs, vielleicht hätten Sie die Güte, uns über Mr. ParkeLaines frühere Ehe und die Machenschaften dieses feinen Herrn ins
Bild zu setzen?«
Briggs blickte von Mr. Mutlar zu dem Paar vor dem Altar.
»Meine Informationen betreffen nicht Mr. Parke-Laine; ich spreche
von Miss Mutlar, oder, mit Ehenamen, Mrs. Daisy Posh!«
Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Gemeinde. Landen
starrte Daisy an; die warf ihren Blumenkranz zu Boden. Eine der
Brautjungfern fing an zu weinen, und Mr. Mutlar stürmte nach vorn
und ergriff Daisys Arm.
»Miss Mutlar heiratete Mr. Murray Posh am 20. Oktober 1981!« rief
Mr. Briggs mit lauter Stimme, um den Tumult zu übertönen. »Die
Trauung fand in Southwark statt! Die Ehe wurde nie geschieden!«
Das war zuviel. Es erhob sich lauter Protest, und die Familie Mutlar
eilte hastig davon. Der Pfarrer richtete ein unerhörtes Gebet an
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niemand bestimmten, während Landen schwerfällig auf die Bank
sank, welche die Familie Mutlar gerade geräumt
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