01 - Der Geist, der mich liebte
den Motor an und setzte zurück.
Ich blieb in der Einfahrt stehen und blickte dem schwarzen Jeep nach, bis er außer Sicht war. Erst dann schnappte ich mir die ersten Tüten und ging damit zum Haus. Als ich die Tür aufschloss, empfing mich dieselbe Kälte wie schon am Vortag. Ich schleppte meine Einkäufe rein. Die Lebensmittel verstaute ich im Kühlschrank und in der Speisekammer. Das Zeug aus dem Heimwerkermarkt ließ ich im Flur stehen. Das würde ich in den nächsten Tagen ohnehin ständig brauchen.
Inzwischen war es fast sechs. Daran, heute noch zu arbeiten, war tatsächlich nicht mehr zu denken. Da ich Tante Fionas Grab noch nicht gesehen hatte, beschloss ich, zum Friedhof zu gehen. Wäre mein Käfer hier gewesen, hätte ich womöglich die Straße genommen. So trat ich durch die Terrassentür in den Garten und nahm den kürzesten Weg über den alten Teil des Friedhofs.
Als ich zwischen den Bäumen in die Schatten trat, erwartete ich, dass es hier ebenso kalt wie im Haus sein würde. Zu meinem Erstaunen war es das nicht. Es wurde zwar ein
wenig kühler, aber nicht unnatürlich kalt. Der Wind fuhr rauschend durch die Baumkronen und brachte Bewegung in die Schattengespinste auf dem Boden, als würden die Grabsteine selbst hin und her schwanken. Unwillkürlich beschleunigte ich meinen Schritt und war froh, als ich nach einer Weile auf einen gepflegten Kiesweg stieß. Ab hier waren die Gräber weniger verwildert. Ich trat ins Sonnenlicht und sah mich um. In einiger Entfernung kniete ein alter Mann vor einem Grabstein im Gras und brachte die Pflanzen in Ordnung. Womöglich konnte er mir sagen, wo ich Tante Fionas Grab finden würde.
Ich hatte ihn noch nicht ganz erreicht, da wandte er sich zu mir um. Es war derselbe Mann, der mir im Supermarkt meine Einkäufe verpackt hatte.
»Hallo, Miss«, grüßte er freundlich und stand auf. »Sie hab ich hier noch nie gesehen.«
»Nein, haben Sie nicht. Sagen Sie, wissen Sie, wo ich Fiona Mitchells Grab finde?« Um allen Fragen zuvorzukommen, fügte ich hastig hinzu: »Ich bin Samantha, ihre Nichte.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Jim Henderson, und das«, er deutete auf das Grab zu seinen Füßen, »ist meine liebe Frau Mae.«
Was sollte ich darauf erwidern? Der Gedanke an den Tod bereitete mir schon immer Unbehagen. Dass dieser Mann mir seine verstorbene Frau vorstellte, erfüllte mich mit einem Gefühl von Beklommenheit. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper.
»Ist Ihnen kalt, Miss Mitchell?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das liegt an diesem Ort. Tante Fionas Haus ist direkt auf der anderen Seite des Friedhofs. Das ist ein wenig unheimlich.« Da fiel mir etwas ein. »Wissen Sie, warum die alten Gräber nicht näher an der Kirche sind?«
»Das waren sie mal. Dann ist die Kirche abgebrannt, das ist bestimmt schon fast fünfzig Jahre her, und wurde hier neu aufgebaut. Die Bodenbeschaffenheit war wohl für das Fundament besser.« Mr Henderson zuckte die Schultern, dann deutete er an mir vorbei. »Sehen Sie dort drüben ? Das Grab mit dem Rosenstrauch? Dort liegt Ihre Tante.«
»Danke, Mr Henderson.«
Er nickte lächelnd und wandte sich zum Gehen. Seine Schritte knirschten schwer auf dem Kies und verstummten abrupt, als er sich mir noch einmal zuwandte. »Den Friedhof brauchen Sie nicht zu fürchten. Er ist ebenso wenig unheimlich wie das Haus, in dem Sie wohnen. Wenn Sie etwas gruselig finden wollen, dann das da oben.« Er deutete auf das Herrenhaus am Hügel. Das Haus, in dem Adrian Crowley wohnte.
Ich runzelte die Stirn. »Was soll daran gruselig sein?«
»Das fragen Sie lieber jemanden im Ort. Die sind allesamt bessere Geschichtenerzähler als ich.« Er winkte mir noch einmal kurz zu, dann machte er kehrt und ging davon.
Während ich mir den Kopf darüber zerbrach, warum das Herrenhaus unheimlich sein sollte, ging ich zu Tante Fionas Grab. Der Anblick des einfachen, namenlosen Holzkreuzes ließ mich Mr Hendersons Worte über das Herrenhaus schlagartig vergessen. Hatte denn noch niemand einen Grabstein für Tante Fiona bestellt oder war er noch nicht fertig? Ich nahm mir vor, es herauszufinden und - wenn nötig - selbst einen in Auftrag zu geben. So wirkte das Grab, als würde sich niemand darum kümmern. Wenn ich Cedars Creek erst verlassen hatte, wäre das auch der Fall. Zumindest solange ich hier war, wollte ich dafür sorgen, dass das Grab gepflegt wurde. Bei meinem Talent mit Pflanzen wäre es wohl das Beste, ich würde mir
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