01 - Gnadenlos
gemacht? fragte sich Doris, wie schlimm hatte sie sich gegen Gott versündigt, daß ihr Leben so aussah? Konnte denn überhaupt jemand solch ein elendes und hoffnungsloses Leben wirklich verdient haben?
»Ich bin beeindruckt, John«, sagte Rosen und sah seinem Patienten direkt ins Gesicht. Kelly saß mit bloßem Oberkörper auf dem Untersuchungstisch. »Was hast du denn gemacht?«
»Etwa acht Kilometer Schwimmen für die Schultern. Besser als Gewichtheben, was ich aber abends auch noch probiert habe. Ein bißchen Dauerlauf. Etwa das, was ich früher absolviert habe.«
»Ich wünschte, ich hätte deinen Blutdruck«, bemerkte der Chirurg, während er die Armmanschette entfernte. Er hatte an diesem Morgen eine größere Operation gehabt, aber für seinen Freund ließ er sich Zeit.
»Alles Übung, Sam«, riet Kelly.
»Dazu hab ich nicht die Zeit, John«, meinte der Chirurg nicht sehr überzeugend, wie beide dachten.
»Ein Doktor sollte es besser wissen.«
»Stimmt«, gestand Rosen ein. »Wie geht's dir sonst?«
Er bekam nur einen Blick als Erwiderung, weder ein Lächeln noch ein Grinsen, bloß eine ausdruckslose Miene, die Rosen alles verriet, was er wissen mußte. Noch ein Versuch: »Es gibt ein altes Sprichwort: Bevor du dich an die Rache machst, heb erst zwei Gräber aus.«
»Bloß zwei?« fragte Kelly obenhin.
Rosen nickte. »Ich habe den Obduktionsbericht auch gelesen. Ich kann's dir also nicht ausreden?«
»Wie geht's Sarah?«
Rosen nahm das Ablenkungsmanöver kommentarlos hin. »Steckt tief in ihrem Projekt. Sie ist so begeistert, daß sie mir sogar davon erzählt. Eine ziemlich interessante Sache.«
In diesem Moment kam Sandy O'Toole herein. Kelly verblüffte beide, indem er nach seinem T-Shirt schnappte und sich die Brust bedeckte. »Ich muß doch bitten!«
Die Schwester war so verdutzt, daß sie lachte, und das tat auch Sam, bis ihm klar wurde, daß Kelly tatsächlich bereit war, auszuführen, was auch immer er plante, Das Training, die Lockerheit, die stetigen, ernsten Augen, die in Fröhlichkeit umschlugen, sobald er es wollte. Wie ein Chirurg, dachte Rosen. Was war das für ein sonderbarer Gedanke, aber je mehr er den Mann anschaute, desto mehr Intelligenz sah er.
»Sie sehen gesund aus für jemanden, der vor ein paar Wochen angeschossen worden ist«, sagte O'Toole mit einem freundlichen Blick.
»Gesund leben, Madam. Ein einziges Bier in bald dreißig Tagen.«
»Mrs. Lott ist jetzt bei Bewußtsein, Doktor Rosen«, meldete die Schwester. »Nichts Ungewöhnliches, es scheint ihr gutzugehen. Ihr Mann ist schon dagewesen, um sie zu besuchen. Ich denke, er wird auch wieder werden. Ich hatte so meine Zweifel.«
»Danke, Sandy.«
»Also, John, du bist auch gesund. Zieh dein Hemd wieder an, bevor Sandy noch rot wird«, fügte Rosen mit einem leisen Lachen hinzu.
»Wo krieg ich hier was zu essen?« fragte Kelly.
»Ich würde es dir selber zeigen, aber ich muß in etwa zehn Minuten zu einer Konferenz. Sandy?«
Sie warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. »So etwa meine Zeit. Wollen Sie sich aufs Krankenhausessen einlassen oder lieber raus?«
»Sie sind die Fremdenführerin, Madam.«
Sie führte ihn zur Kantine, wo das Essen erwartungsgemäß krankenhausfade war, aber wer wollte, konnte ja nachsalzen und stärker würzen. Kelly wählte etwas aus, das hoffentlich satt machte und vielleicht sogar gesund war, um den Mangel an Geschmack wettzumachen.
»Viel zu tun?« fragte er, nachdem sie sich einen Tisch gesucht hatten.
»Immer«, versicherte ihm Sandy.
»Wo wohnen Sie?«
»Beim Loch Raven Boulevard, außerhalb.« Sie hatte sich nicht verändert, sah Kelly. Sandy O'Toole lebte ihr geregeltes Leben, sogar ziemlich gut, aber die Leere in ihrem Leben unterschied sich nicht wesentlich von seiner. Der einzige Unterschied war der, daß er etwas dagegen tun konnte, sie nicht. Sie gab sich offen, besaß eine ordentliche Portion Humor, aber ihr Kummer überwältigte sie doch immer wieder. Kummer war eine starke Macht. Es bot schon gewisse Vorteile, wenn man Feinde hatte, die man aufspüren und ausschalten konnte. Gegen einen Schatten zu kämpfen, war viel schwieriger.
»Reihenhaus, wie hier in der Gegend?«
»Nein, es ist ein alter Bungalow, oder wie Sie es nennen wollen, ein großes, viereckiges Haus mit zwei Stockwerken. Auf zweitausend Quadratmetern. Da fällt mir ein«, fügte sie hinzu, »ich muß dieses Wochenende den Rasen mähen.« Dann erinnerte sie sich, daß Tim immer gern den Rasen
Weitere Kostenlose Bücher