01 - Gnadenlos
für London«, sagte ein anderer Tourist. »Ob es hier jemals Gewitter gibt?« fragte der Amerikaner beiläufig, wahrend er die ausladende Rüstung Heinrichs VIII. bewunderte.
»Ganz bestimmt«, antwortete der Mann. »Aber nicht so heftige wie in Washington.«
Henderson blickte sich suchend nach dem Ausgang um und ging dann darauf zu. Kurz darauf schlenderte er mit seinem neuen Bekannten über die den Tower umgebende Rasenfläche.
»Ihr Englisch ist ausgezeichnet.«
»Vielen Dank, Peter. Ich heiße George.«
»Hallo, George.« Henderson lächelte, ohne seinen neuen Freund anzusehen. Es war wirklich wie bei James Bond, und daß es hier passierte - nicht nur in London, sondern an einem historischen Schauplatz der britischen Monarchie - paßte ausgezeichnet ins Bild.
George war sein richtiger Name - oder besser Georgij, das russische Äquivalent -, und er führte nur noch selten persönlich einen Agenteneinsatz durch. Obwohl er als Feldoffizier für den KGB Großes geleistet hatte, war er vor fünf Jahren wegen seiner analytischen Fähigkeiten nach Moskau zurückgerufen, zum Oberstleutnant ernannt und zum Leiter der gesamten Sektion eingesetzt worden. Der inzwischen zum Oberst beförderte Geheimdienstmitarbeiter sah schon seinem ersten Generalsstern entgegen. Er war einzig aus dem Grunde über Helsinki und Brüssel nach London gekommen, um CASSIUS persönlich kennenzulernen - und um ein paar Einkäufe für seine Familie zu tätigen. Im gesamten KGB gab es nur drei Männer seines Alters in einem ähnlich hohen Rang wie er, und seine hübsche junge Frau trug nur zu gern westliche Kleider. Und wo sonst hätte er die einkaufen sollen als in London? George sprach bedauerlicherweise nämlich weder Französisch noch Italienisch.
»Wir werden uns nur dieses eine Mal persönlich treffen. Peter.«
»Sollte ich mich deshalb geehrt fühlen?«
»Wenn Sie wollen.« Für einen Russen war George außerordentlich gutmütig, obwohl dies auch zu seiner Deckung gehörte. Er lächelte den Amerikaner an, »Ihr Senator hat Zugang zu vielen Dingen.«
»Ja, das hat er«, stimmte Henderson zu. Er genoß das Werbungsritual. Und ich auch, brauchte er nicht extra hinzufügen.
»Derartige Informationen sind nützlich für uns. Ihre Regierung - und insbesondere Ihr neuer Präsident - jagen uns ehrlich gesagt Angst ein.«
»Mir macht er auch Angst«, gab Henderson zu.
»Aber zur gleichen Zeit besteht auch Hoffnung«, fuhr George in vernünftigem und beherrschtem Ton fort. »Er ist Realist. Die von ihm vorgeschlagene Detente wird von meiner Regierung als Hinweis angesehen, daß wir ein Übereinkommen auf breitester internationaler Ebene erzielen können. Aus diesem Grunde würden wir gern herausfinden, ob sein Vorschlag für Gespräche ernst gemeint ist. Unglücklicherweise haben wir selbst Probleme.«
»Und die wären?«
»Vielleicht meint es Ihr Präsident tatsächlich gut. Das sage ich in vollem Ernst, Peter«, fügte George hinzu. »Aber er ist äußerst... ehrgeizig. Wenn er zuviel über uns weiß, könnte er uns in bestimmten Bereichen unter Druck setzen, und das könnte das Abkommen verhindern, das wir uns alle wünschen. Sie haben die unterschiedlichsten Elemente in Ihrer Regierung. Wir aber auch - Überbleibsel aus der Stalinära. Verhandlungen wie die kommenden hängen davon ab, daß beide Seiten vernünftig bleiben. Wir brauchen Ihre Hilfe, um die unvernünftigen Elemente auf unserer Seite zu kontrollieren.«
Henderson war überrascht. Russen konnten anscheinend genauso offen sein wie Amerikaner. »Und was soll ich dabei tun?«
»Es gibt Dinge, die wir nicht durchsickern lassen dürfen. Wenn doch, dann sind unsere Aussichten für eine Detente gleich Null. Sobald wir zuviel über euch wissen oder ihr zuviel über uns, treten wir nicht mehr unter gleichen Voraussetzungen an. Jede Seite ist dann nur noch auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Dann kann von einer wirklichen Verständigung keine Rede mehr sein, dann kommt es nur noch darauf an, die Vorherrschaft zu gewinnen, und das wird keine Seite akzeptieren. Verstehen Sie?«
»Ja, das leuchtet mir ein.«
»Deshalb bitte ich Sie, Peter, daß Sie uns von Zeit zu Zeit bestimmte Informationen zukommen lassen, und zwar das, was Sie über uns wissen. Ich will Ihnen gar nicht genau vorschreiben, was. Ich glaube, Sie sind intelligent genug, um das selbst zu wissen. Darin vertrauen wir Ihnen voll und ganz. Ein Krieg scheint ja nun mittlerweile in weite Ferne gerückt. Ob und wann ein
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