01 - Gott schütze dieses Haus
dachte daran, was ein Mensch lernt und wann er es lernt und wann es zur praktischen Anwendung kommt. Er dachte an Wissen und wie es sich unweigerlich mit der Erfahrung verbindet und auf die unabänderliche Wahrheit hinweist.
Er riß sich aus seinen Gedanken, um die Frage zu beantworten.
»Simon, was würdest du tun, wie weit würdest du gehen, um Deborah zu retten?«
Es war eine gefährliche Frage. Langes Schweigen folgte ihr. Dies waren Gewässer, die man vielleicht am besten unerforscht ließ.
»›Vierzigtausend Brüder‹? Sind wir da jetzt angelangt?«
St. James' Stimme war unverändert, aber der Ausdruck seines Gesichts war eine Warnung, klar gezeichnet und hart.
»Wie weit würdest du gehen?« insistierte Lynley.
»Tommy, nicht!« Deborah hob die Hand, um ihn davon abzuhalten, noch weiter zu gehen, den brüchigen Frieden zwischen ihnen aufs Spiel zu setzen.
»Würdest du die Wahrheit zurückhalten? Würdest du dein Leben geben? Wie weit würdest du gehen, um Deborah zu retten?«
St. James sah seine Frau an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen; die Sommersprossen auf ihrer Nase traten scharf hervor; in ihren Augen standen Tränen. Und er verstand. Dies war kein Scharmützel in einem Grab von Helsingör; dies war die Urfrage.
»Ich würde alles tun«, antwortete er, den Blick auf seine Frau gerichtet. »Bei Gott ja, ich würde alles tun.«
Lynley nickte. »Wie jeder, nicht wahr, für die, die er am meisten liebt.«
Er wählte die 6. Symphonie von Tschaikowsky, die Pathétique. Er lächelte leicht, während er den Klängen des ersten Satzes lauschte.
Helen hätte das nie zugelassen.
»Tommy, Darling, das kommt nicht in Frage«, hätte sie protestiert. »Wir wollen doch unsere beiderseitige Depression nicht bis zum Selbstmord steigern.« Dann hätte sie energisch sämtliche Kassetten durchwühlt, bis sie etwas angemessen Erheiterndes entdeckt hätte; vorzugsweise Johann Strauß, natürlich in voller Lautstärke. Und sie hätte ihre üblichen verrückten Bemerkungen dazu gemacht. »Siehst du sie vor dir, Tommy, wie sie mit ihren kleinen Tutus durch den Wald gaukeln? Es ist richtig erhebend.«
Doch an diesem Tag entsprach das ernste Thema der Pathétique, dieses schonungslose Ausloten menschlichen Leidens, seiner Stimmung. Er konnte sich nicht erinnern, wann je ein Fall ihn so belastet hatte. Ihm war, als drückte ihm ein ungeheures Gewicht, das mit der Verantwortung, der Sache auf den Grund zu gehen, absolut nichts zu tun hatte, das Herz ab. Er wußte wohl, woher das kam. Mord - atavistisch seiner Art nach und grauenvoll in seinen Folgen - war wie eine Hydra. Für jeden Kopf, den man ihr abschlug, wuchsen zwei neue Köpfe nach, fürchterlicher als der erste. Doch im Gegensatz zu so vielen anderen Fällen, wo reine Routine ihm genügte, um zum Kern des Bösen vorzustoßen - man band den Blutfluß ab, ließ kein weiteres Wachstum zu und ging persönlich unberührt aus dem Kampf hervor -, griff dieser Fall ihn weit tiefer an. Er wußte instinktiv, daß der Tod William Teys' nur einer der Köpfe des Ungeheuers war, und das Wissen, daß acht weitere darauf warteten, den Kampf mit ihm aufzunehmen - und, mehr noch, daß er noch nicht einmal bis zur Erkenntnis der wahren Natur des Bösen vorgedrungen war, mit dem er konfrontiert war -, erfüllt ihn mit Furcht. Aber erkannte sich gut genug, um zu wissen, daß seine Trostlosigkeit und seine Verzweiflung einen tieferen Grund hatten als den Tod eines Menschen in einem Dorfstall.
Havers wartete auf ihn. Und hinter Havers wartete die Wahrheit. So bitter und unbegründet ihre Anwürfe gewesen waren, so häßlich und verletzend ihre Worte, das, was sie gesagt hatte, war wahr. Hatte er nicht in der Tat das ganze vergangene Jahr mit der fruchtlosen Suche nach einem Ersatz für Deborah vertan? Nicht in dem Sinn, wie Havers unterstellt hatte; nein, auf weit verlogenere Art als in gleichgültiger körperlicher Verbindung, wo man flüchtiges Vergnügen teilt und dann, von der Begegnung unberührt und unverändert, auseinandergeht, um das eigene Leben wiederaufzunehmen. Das wäre wenigstens eine gewisse Art der Äußerung gewesen, ein momentanes Geben, wenn auch noch so oberflächlich. Doch er hatte im letzten Jahr keinem irgend etwas gegeben.
War nicht der wirkliche Grund für sein Verhalten der gewesen, daß er Isolation und Enthaltsamkeit nicht Deborahs wegen geübt hatte, sondern blind seinem Ausschließlichkeitskult gefolgt war und in blinder Anbetung die
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