01 - Gott schütze dieses Haus
gespannt, ob er sich einen Temperamentsausbruch gestatten, ob sich auch nur ein feiner Sprung in seiner Fassade kühler Wohlerzogenheit zeigen würde.
»Auch die Bereitschaft, täglich zu baden, ist meiner Ansicht nach kein Indikator für unerschütterliche geistige Gesundheit. - Pochen Sie bei mir nicht auf Ihren Dienstgrad, Superintendent. Wenn das ein Hinweis darauf ist, wie Sie in diesem Fall die Ermittlungen geführt haben, wundert es mich nicht, daß Kerridge Ihnen an den Kragen will. - Wer ist ihr Anwalt? - Hätten nicht Sie selbst ihr dann einen besorgen sollen? - Erzählen Sie mir nicht, was alles Ihrer Meinung nach nicht Ihres Amtes ist. Ich bin mit diesem Fall betraut worden, und von jetzt an wird alles korrekt gehandhabt werden. Habe ich mich verständlich gemacht? - Gut, dann hören Sie mir jetzt genau zu. Ich gebe Ihnen zwei Stunden Zeit, nicht eine Minute mehr, mir sämtliche Unterlagen nach Keldale zu liefern: jede richterliche Verfügung, jedes Protokoll, jeden Bericht, jede Notiz, die sich jeder Beamte gemacht hat, der mit diesem Fall zu tun hatte. Haben Sie mich verstanden? Zwei Stunden. - Webberly. Richtig. Rufen Sie ihn an und lassen Sie mir meine Ruhe.«
Mit steinerner Miene reichte Lynley Stepha Odell das Telefon zurück.
Sie stellte es hinter den Empfangstisch und strich mit einem Finger mehrmals über den Hörer, ehe sie aufblickte.
»Hätte ich lieber nichts sagen sollen?« fragte sie mit einer Spur Besorgnis in der Stimme. »Ich möchte nicht zwischen Ihnen und Ihren Vorgesetzten Unfrieden stiften.«
Lynley klappte seine Taschenuhr auf und vermerkte die Zeit.
»Nies ist nicht mein Vorgesetzter. Es war ganz richtig von Ihnen, mir das zu erzählen. Ich bin Ihnen dankbar dafür. Sie haben mir eine sinnlose Fahrt nach Richmond erspart, die Nies mir offensichtlich nur zu gern aufgezwungen hätte.«
Stepha gab nicht vor zu verstehen, wovon er sprach. Vielmehr wies sie mit einer etwas unsicheren Geste zu einer Seitentür.
»Ich - darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Inspector? Und Ihnen auch, Sergeant? Wir haben hier ein echtes Ale, das einen, wie Nigel Parrish gern sagt, ›wieder auf die Reihe bringt‹. Kommen Sie mit in den Aufenthaltsraum.«
Sie führte sie in einen Raum, in dem noch der etwas beißende Geruch eines erst kürzlich erloschenen Feuers hing. Der Aufenthaltsraum war mit kluger Überlegung eingerichtet - gemütlich genug, daß sich die Hausgäste darin wohl fühlen konnten, aber doch so förmlich, daß die Dorfbewohner ihr Bier lieber anderswo tranken. Chintzbezogene Sofas und tiefe Sessel mit Petit-Point-Stickerei, helle Tische, die recht willkürlich verteilt standen, ein Teppich mit Blumenmuster, an manchen Stellen, wo vor kurzem erst Möbelstücke weggerückt worden waren, etwas dunkler. An den Wänden hingen einige wenig originelle Stiche, eine Jagdgesellschaft, ein Tag in Newmarket, eine Ansicht des Dorfes. Lediglich hinter der Bar, auf der anderen Seite des Raumes und über dem offenen Kamin gab es zwei Aquarelle, die bemerkenswertes Talent zeigten. Beide waren Ansichten einer halb zerfallenen Abtei.
Lynley ging zum Tresen, wo Stepha gerade dabei war, das Ale zu zapfen, und betrachtete das eine der Bilder.
»Das ist wirklich hübsch«, sagte er. »Ist das von einem einheimischen Maler?«
»Sie sind von einem jungen Mann namens Ezra Farmington«, antwortete sie, »und zeigen beide unsere alte Abtei. Mit diesen beiden Bildern hat er in einem Herbst für die Unterkunft hier bezahlt. Er lebt jetzt ständig im Dorf.«
Barbara schaute ihr zu, wie sie geschickt und sicher an den Zapfhähnen hantierte und den Schaum vom Glas abschöpfte. Stepha lachte auf eine gewinnende, etwas atemlose Art, als der Schaum über den Rand des Glases rann und auf ihre Hand tropfte. Automatisch hob sie die Finger zu den Lippen, um sie abzulecken. Barbara fragte sich, wie lange Lynley wohl brauchen würde, um sie in sein Bett zu bekommen.
»Sergeant?« fragte Stepha. »Für Sie auch ein Ale?«
»Ein Tonic, wenn Sie welches dahaben«, antwortete Barbara.
Sie sah zum Fenster hinaus. Auf der Dorfwiese stand der alte Priester, der bei ihnen in London gewesen war, in lebhaftem Gespräch mit einem anderen Mann, der mehrmals auf den silbernen Bentley zeigte. Die Ankunft der Polizei schien die beiden ihren Gesten nach sehr zu beschäftigen. Eine Frau kam über die Brücke und gesellte sich zu ihnen. Sie wirkte so zart, als könnte der nächste Windstoß sie davonfegen, und der Eindruck
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