01 - Gott schütze dieses Haus
gab es zwischen den beiden Männern wegen Roberta Streit?«
»Olivia hat es mir später erzählt - sie war mit ihnen zusammen im Dove and Whistle, als es passierte. Sie sagte, es sei einzig wegen Robertas Aussehen dazu gekommen.« Sie zeichnete mit einem Finger ein verschlungenes Muster in die beschlagene Wand ihres Glases. »Richard ist in Keldale aufgewachsen, wissen Sie, aber er war mehrere Jahre weg, in East Anglia. Er wollte es mit Gerste versuchen und sich selbst was aufbauen. Er hat dort auch geheiratet und hat inzwischen zwei Kinder. Als aus seinen Plänen nichts wurde, kam er nach Keldale zurück.« Sie lächelte. »Es heißt, daß der Kel keinen so leicht losläßt, und auch bei Richard traf das zu. Er war acht oder neun Jahre fort. Als er zurückkam, war er mehr als entsetzt, wie Roberta sich verändert hatte.«
»Sie sagten, es ging einzig um ihr Aussehen?«
»Sie sah nicht immer so aus, wie sie heute aussieht. Groß war sie immer schon, natürlich, auch mit acht Jahren, als Richard wegging. Aber sie war nie ...« Stepha stockte, offensichtlich bemüht, das richtige Wort zu finden, einen Ausdruck, der sachlich richtig war, ohne entwertend oder abfällig zu sein.
»Übergewichtig«, vollendete Barbara. Ein fetter Trampel.
»Ja«, bestätigte Stepha dankbar. »Richard war immer Robertas bester Freund gewesen, obwohl er zwölf Jahre älter ist als sie. Und als er bei seiner Rückkehr sah, was aus ihr geworden war - in körperlicher Hinsicht, meine ich -, war er schlicht entsetzt. Er machte William schreckliche Vorwürfe, sagte, er habe das Mädchen vernachlässigt und sie habe sich nur deshalb so vollgestopft, um irgendwie seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. William wurde fuchsteufelswild. Olivia sagte, sie habe ihn noch nie so wütend gesehen. Der arme Kerl, er hat in seinem Leben weiß Gott Schwierigkeiten genug gehabt. Da brauchte er nicht auch noch diese Beschuldigung von seinem eigenen Neffen. Aber sie versöhnten sich wieder, denn Richard entschuldigte sich gleich am nächsten Tag. William war allerdings nicht bereit, mit Roberta zum Arzt zu gehen - so weit wollte er nicht nachgeben. Aber Olivia stellte eine Diät für Roberta zusammen, und von da an ging alles gut.«
»Bis vor drei Wochen«, bemerkte Lynley.
»Wenn Sie glauben wollen, daß Roberta ihren Vater umgebracht hat, haben Sie natürlich recht. Aber ich glaube nicht, daß sie ihn getötet hat. Nie im Leben.«
Die Heftigkeit ihrer Worte überraschte Lynley.
»Wieso nicht?«
»Weil William - abgesehen von Richard, der mit seiner eigenen Familie genug zu tun hat - der einzige Mensch war, den Roberta hatte.«
»Sie hatte keine Freunde in ihrem Alter?«
Stepha schüttelte den Kopf.
»Sie war eine Einzelgängerin. Wenn sie nicht gerade mit ihrem Vater auf dem Hof gearbeitet hat, hat sie meistens gelesen. Sie kam jahrelang Tag für Tag her, um sich den Guardian zu holen. Auf dem Hof hatten sie nie eine Zeitung, deshalb kam sie jeden Nachmittag, wenn alle hier den Guardian gelesen hatten, und nahm ihn mit nach Hause. Das hatte ich ihr erlaubt. Ich nehme an, sie hatte sämtliche Bücher gelesen, die noch von ihrer Mutter im Haus waren, und ebenso alle Marsha Fitzalans, so daß ihr nur noch die Zeitung blieb. Eine Leihbibliothek gibt es ja bei uns nicht.«
Sie blickte einen Moment stirnrunzelnd auf das Glas in ihrer Hand.
»Vor ein paar Jahren interessierte sie allerdings die Zeitung plötzlich nicht mehr. Als mein Bruder starb. Ich hatte damals den Verdacht -« Ihre blaugrauen Augen trübten sich. »Ich hatte den Verdacht, daß Roberta in Paul verliebt war. Nach seinem Tod vor vier Jahren haben wir sie lange Zeit überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Und nach dem Guardian hat sie nie wieder gefragt.«
Die St. Chad's Lane war eine ungepflasterte schmale Gasse, die nirgendwohin führte und sich einzig durch das Gasthaus an der Ecke auszeichnete, das Dom and Whistle mit den grell violetten Türen und Fensterrahmen. Gegenüber standen vier kleine Reihenhäuser, die man Gemeindehäuser nannte.
Richard Gibson und seine Familie lebten in dem letzten Haus dieser Zeile, einem schmalen Gebäude aus grauem Stein, dessen einst königsblaue Haustür zu einem müden Grau erblaßt war. Sie stand offen, obwohl die Temperaturen am späten Nachmittag schon empfindlich kühl wurden, und aus dem Inneren des Häuschens kamen die wütenden Töne eines Ehekrachs.
»Verdammt noch mal, dann tu doch du endlich was mit ihm. Er ist doch auch dein Sohn.
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