01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
anderen Land eine Existenz aufzubauen, anstatt ins Gefängnis zu gehen? Die Sache würde ihm nicht gefallen.
Ihr zitterten die Knie. Sie setzte sich auf einen der Sessel mit blau-weißem Brokatbezug und überließ den Männern die Stühle am Kamin. Doch setzten sich Tring und Piper etwas weiter entfernt hin, und Alec stellte sich mit dem Rücken zum Feuer, die Miene einschüchternd streng. Er runzelte die Stirn und blickte sie an.
»Es war Geoffrey, nicht wahr? Der ist früh aus dem Salon gegangen; Tom sagt, daß er sich mit Astwick das Badezimmer geteilt hat; und er ist wohl als einziger hier stark genug, um die Leiche an den See zu tragen.«
»Ja«, gab sie zu, »nur ...« Sie hielt inne, als es irgendwo in der Ferne drei Uhr schlug. Langsam löste sich die Anspannung in ihr wie eine sich abspulende Metallfeder.
»Genau davor hatte ich Angst«, sagte Alec. »Ich mochte den Jungen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß er diesen Schuft kaltblütig ermordet haben soll. Ist er provoziert worden?«
»Und ob! Nur ist das nicht in seinem Badezimmer geschehen. Astwick hat Annabel in ihrem Badezimmer angefallen, und Geoffrey hat ihre Hilferufe gehört.«
»Du liebe Zeit, das ist wirklich eine Provokation. Das tut mir leid, daß ich gerade ihn festnehmen muß.« Er stöhnte auf.
»Und ohne Zweifel hat Lady Wentwater ihm geholfen, sich der Beweismittel zu entledigen.«
»Sie können ihn gar nicht festnehmen«, sagte Daisy, und ihre Angst war stärker als das Gefühl des Triumphes. »Dazu ist es zu spät. Sehen Sie, ich hab mich erinnert, daß die S. S. Orinoco heute nach Rio in See sticht, und Sir Hugh hat in Brasilien Plantagen, in denen Geoffrey arbeiten kann. Er ist um drei Uhr von Southampton abgesegelt.«
Alec starrte sie mit einem Ausdruck tiefsten Unglaubens an.
»Er ist was? Und Sie ...« Irgendwie war diese leise Stimme viel erschreckender als jedes laute Brüllen. »Sie dämliches kleines Ding, begreifen Sie denn nicht? Damit haben Sie sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht.«
17
Wie zum Teufel sollte er sie bloß vor den Konsequenzen ihrer Schnapsidee retten?
Während Alec auf Daisys Gesicht herabstarrte, das ihm so ängstlich und doch trotzig entgegensah, erkannte er, daß es hier nicht darum ging, gegenüber einem ungezogenen Bürger die Rolle eines strengen Polizisten einzunehmen. Hier ging es um einen riesigen Streit.
Der junge Piper starrte ihn fasziniert und erschrocken an, während in Toms ansonsten regungsloser Miene die Augen amüsiert blitzten.
»Sie beide«, zischte Alec, »Sie gehen jetzt und holen sich eine Tasse Tee oder sonstwas.« Er wartete in strengem Schweigen, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Dann wandte er sich wieder Daisy zu. »Ich muß ja von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, Ihnen zu trauen!«
Voller Schuldgefühle protestierte sie: »Aber ich ...«
»Oder sind Sie vielleicht von allen guten Geistern verlassen, daß Sie einem Mörder helfen wollen, unbehelligt davonzukommen?«
»Er kommt gar nicht unbehelligt davon. Außerdem ist er ...«
»Da haben Sie verdammt recht, er kommt nicht davon. Ich werde gleich dem Schiff telegraphieren, ehe es aus der Dreimeilenzone heraus ist, der kommt mir gleich zurück an Land.«
Er hatte seine Fassung einigermaßen wieder zurückgewonnen. »Und zwar je schneller, desto besser.« Er ging los.
»Warten Sie!« Entsetzt sprang Daisy auf und streckte die Hand nach ihm aus. »Lassen Sie mich ...«
»Ich bin in einer Minute zurück.«
»Meine Güte, würden Sie wohl endlich damit aufhören, mich zu unterbrechen, und mir einmal zuhören?« verlangte sie wütend. »Geoffrey ist kein Mörder. Lassen Sie mich doch mal erklären, was überhaupt geschehen ist!«
»In Ordnung.« Mit einem erschöpften Seufzen ließ er sich in den nächstgelegenen Sessel fallen. Sein Kopf schmerzte an der Stelle, wo er sich vorhin gestoßen hatte, als der Austin in den Straßengraben gerutscht war. »Die Orinoco ist ein englisches Schiff. Ich kann schließlich jederzeit veranlassen, daß sie umkehrt.«
Daisy mußte sich ziemlich rasch setzen. »Können Sie das wirklich? Ich dachte, er wäre in Sicherheit, sobald das Schiff einmal abgelegt hat.«
»Mörder lassen wir nicht einfach so ungestraft davonkommen.«
»Er entkommt doch nicht ungestraft. Er geht ins Exil, und er verläßt seine Familie und alle Freunde und die Frau, die er liebt. Und außerdem reist er auch nicht zur Kur an die französische Riviera. Er geht nach
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