01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
einmal versucht, mich an die Arbeit zu setzen. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Eigentlich war ich gerade auf der Suche nach Annabel.«
Was auch immer er ihr hatte sagen wollen, jetzt war es vergessen. Schwer stützte er sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab und starrte auf das eben von ihm beschriebene Blatt Papier hinunter, doch war sich Daisy sicher, daß er es nicht wahrnahm. »Annabel braucht Ihre Freundschaft mehr denn je«, sagte er schmerzerfüllt. »Sie hat kein Vertrauen zu mir. Es gibt da immer noch etwas, was sie mir nicht sagen will.«
»Möchten Sie, daß ich mit ihr darüber spreche? Das kann ich gerne tun, wenn Sie mit hochkommen und in Ihrem Ankleideraum warten. Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber wenn Ihre Frau es sich von der Seele reden will, dann hole ich Sie.«
Gemeinsam gingen sie die Treppe hinauf. Lord Wentwater zog sich in sein Ankleidezimmer zurück, und Daisy ging weiter zu Annabels Boudoir. Annabel ging nervös auf und ab, blaß und aufgerührt.
»Daisy, ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht sollte ich auch weggehen. Ich hab Henry nichts als Unglück gebracht, und ich kann es nicht ertragen, auf den nächsten Schicksalsschlag zu warten.«
Daisy zog sie zur Chaiselongue am Kamin und setzte sich neben sie, wobei sie ihr den Arm um die Taille legte. »Ihr Mann liebt Sie doch aber, und Astwick sind Sie für immer los. Es wird keinen nächsten Schicksalsschlag geben.«
»Das könnte es aber doch.« Tränen rannen Annabel über das Gesicht. »Das ist ja das Schreckliche. Andere Leute wissen das auch, was er wußte, und jeder von denen könnte es sich in den Kopf setzen, es Henry zu erzählen.«
»Warum sagen Sie es ihm dann nicht selbst? Ihre Angst, sich ihm anzuvertrauen, verletzt ihn viel stärker als irgendein Geheimnis in Ihrer Vergangenheit.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Da bin ich mir sicher. Er wartet in seinem Ankleidezimmer. Soll ich Sie zu ihm bringen?«
Annabel griff Daisys Hand. »Aber Sie bleiben doch da? Sie lassen mich nicht allein hingehen?«
»Wenn Sie das wirklich möchten«, zauderte Daisy, obwohl sie mittlerweile fast vor Neugier starb.
»Ja, bitte!«
Daisy ging, den Grafen zu holen. Seine Miene hellte sich auf, als sie sagte: »Annabel möchte mit Ihnen sprechen.«
»Miss Dalrymple, wie kann ich Ihnen das jemals danken?« Er war schon an ihr vorbei in den Korridor geeilt.
Sie bemühte sich, mit seinen langen Schritten mitzukommen. »Sie möchte, daß ich dableibe.«
»Von mir aus gern, was immer sie will.«
»Sie hat Angst, Sie zu verletzen. Aber ich glaube, sie hat auch Angst, Sie könnten sie verstoßen.«
»Niemals!« Er platzte in das Boudoir hinein und ging ohne zu zögern zu Annabel, setzte sich neben sie und zog sie besitzergreifend an sich.
Daisy zog sich in einen Sessel am Fenster zurück, als Annabel sich an die Schulter ihres Mannes warf und schluchzte: »Oh, Henry, es ist alles meine Schuld. Dieses ganze Unglück ...«
»Was für ein Unsinn. Habe ich nicht schon gesagt, daß du keineswegs für Astwicks Niedertracht verantwortlich bist, und auch nicht für deren Folgen?«
»Aber das bin ich doch! Wenn ich nur den Mut gehabt hätte, es dir zu sagen, dann hätte er mich nicht erpressen können ...«
»Erpressung!« donnerte Lord Wentwater los. »Dieser Knilch hat dich erpreßt? Wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich ihm ohne Umschweife mit dem Dolch von Königin Elisabeth die Kehle durchgeschnitten.«
Anbetend blickte sie zu ihm empor. »Dann sei dem Himmel Dank, daß du es nicht gewußt hast. Aber wenn ich niemals etwas getan hätte, dessen ich mich schämen müßte, dann wäre ...«
»Mein Liebling, ich bezweifle, daß irgend jemand auf dieser Welt wahrhaftig behaupten kann, nichts in seinem Leben zu bereuen. Und ich glaube, ich ahne schon ... Was für ein Idiot ich doch war!«
»Du kannst es nicht wissen, Henry.« Annabel vergrub erneut ihr Gesicht an seiner Schulter. Daisy konnte ihre Worte kaum hören. »Ich war keine Witwe, als du mich kennengelernt hast. Verstehst du, Rupert und ich waren nie verheiratet.«
Daisy unterdrückte ein schockiertes Aufkeuchen. In ihren wildesten Mutmaßungen über Annabels Geheimnis war es ihr nie in den Sinn gekommen, daß sie mit Rupert vielleicht jahrelang zusammengelebt haben könnte, ohne seine Ehefrau zu sein. Es gab wohl nur wenige Vergehen, die Lord Wentwaters viktorianische Ansichten von Moral und Anstand noch stärker hätten verletzen können.
Doch der
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