01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
wollte das nicht!« rief er aus, sackte gegen den Türpfosten und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich wollte das nicht! Es war wie ein Alptraum, aus dem ich einfach nicht aufwachen konnte.«
Er war nicht wütend, nur verzweifelt. Daisy hatte keine Angst mehr vor ihm. Sie ging durch das Badezimmer und legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »Wollen Sie mir davon erzählen?«
»Die Polizei wird es ja ohnehin herausfinden, nicht wahr?« sagte er mutlos.
»Wenn ich darauf komme, dann können Sie sich sicher sein, daß es Mr. Fletcher auch irgendwann klar wird.«
»Die Stiefel ... Ich hab vergessen, daß er nicht in Schlittschuhen zum See hinuntergegangen sein kann.«
»Das war auch wirklich merkwürdig.« Sie sagte ihm nicht, daß dieser Fehler die Detectives nicht im mindesten weitergebracht hatte. »Aber die Autopsie hat auch neue Beweise erbracht. Astwick ist bald nach dem Abendessen gestorben, und er ist in seiner Badewanne umgekommen, nicht im See.«
»Nicht in seinem Bad. Nicht hier.«
»Wo denn sonst?« fragte Daisy verwirrt. Wenn Astwick nicht in diesem Badezimmer ertrunken war, dann gab es keinen Grund dafür, Geoffrey mehr zu verdächtigen als jeden anderen auch - wenn man davon absah, daß er die Sache soeben mehr oder minder gestanden hatte.
Er starrte sie entsetzt an. »Sie glauben, ich wäre einfach hier hereinmarschiert und hätte ihn in seiner Badewanne ertränkt? Ohne daß er mich provoziert hätte? Ganz kaltblütig?«
»Nein, ich bin überzeugt, daß er Sie provoziert haben muß«, versicherte sie ihm. »Ich meine, es muß etwas Schlimmeres vorgefallen sein als nur eine seiner üblichen Gehässigkeiten. Was ist passiert? Wenn es nicht hier passiert ist, wo dann?«
»Ich erzähl es Ihnen. Ich werde es alles erklären, aber ich ... der Detective ist noch nicht zurück, oder?«
»Der Chief Inspector? Noch nicht«, sagte Daisy vorsichtig.
»Er wird aber jeden Moment zurückerwartet.«
»Lassen Sie es mich Ihnen erzählen, ehe er kommt. Aber ich will, daß Vater es auch hört. Bitte!«
»Selbstverständlich. Wir schauen mal, ob er in seinem Arbeitszimmer ist.«
Schweigend gingen sie gemeinsam die Korridore entlang.
Geoffrey hatte die Fassung wiedergewonnen, doch war sein Gesicht weiterhin blaß. Daisy fand, daß er schmaler geworden war, seit sie ihn kennengelernt hatte.
Oben an der Treppe hielt er inne und sagte mit leiser, flehender Stimme: »Würden Sie das an meiner Stelle Mr. Fletcher erklären? Ich glaube nicht, daß ich die Geschichte zweimal erzählen kann, das ertrage ich nicht. Wenn er es schon weiß, dann kann er einfach Fragen stellen.«
»Wenn Sie das gerne möchten, kann ich das tun. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, daß er die ganze Geschichte nicht nochmal in Ihren eigenen Worten hören will.«
»Ich vermute, da haben Sie recht.«
»Sind Sie sicher, daß Sie nicht lieber warten wollen, bis er wieder da ist?«
»Nein! Ich kann nicht zulassen, daß Vater es von jemand anderem erfährt.« Er warf ihr einen flehentlichen Blick zu.
»Und ... und mir wäre lieber, wenn Sie dabei wären.«
»Ich werd Sie nicht im Stich lassen.« Was auch immer er getan hatte, jetzt war er nur noch ein unglücklicher, schutzloser Waisenknabe. Ihr Herz war voller Mitleid.
Sie gingen weiter die Treppe hinunter und durchquerten die leere Halle. Das Arbeitszimmer des Grafen war leer, nur die Retriever von Landseer blickten mit aristokratischer Gleichgültigkeit von der Wand auf sie herunter. Nebenan in der Bibliothek war ebenfalls niemand. Geoffrey wandte sich zu Daisy, und sein Blick wirkte verloren.
»Es besteht keine Notwendigkeit, irgendwelche Diener in diese Angelegenheit einzubeziehen«, sagte sie fest. »Warten Sie hier, ich suche Lord Wentwater.«
Geoffrey nickte stumm, ging hinüber zum Fenster und starrte hinaus auf die zugenieselte Dunkelheit.
Während sich die Tür des Arbeitszimmers hinter ihr schloß, zögerte Daisy. Sie hatte nicht im Studierzimmer des Grafen klingeln wollen, denn wenn ein Diener sie dort mit Geoffrey vorfände, wüßte er sofort, daß sie beide gemeinsam mit seinem Vater sprechen wollten. Nicht, daß die Dienerschaft das alles nicht sowieso irgendwann herausfinden würde - Alec hatte ihr das sehr deutlich gemacht -, aber je später das geschah, desto besser.
Andererseits würde eine Suche nach Lord Wentwater quer durchs gesamte Haus allerseits erhobene Augenbrauen und eine gesteigerte Neugier zur Folge haben. Niemand würde einen weiteren Gedanken
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