01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
darauf verschwenden, wenn sie sich nach ihm erkundigte und dann um ein Wort unter vier Augen bat.
Sie eilte in die Halle. Der diensttuende Diener richtete gerade im riesigen Kamin das Feuer. Er stand auf, als er ihre Schritte herannahen hörte. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?«
»Wissen Sie, wo Lord Wentwater ist?«
»In der Gutsverwaltung, Miss.« Neugierig glitzerten seine Augen in dem ansonsten regungslosen Gesicht. »Soll ich seiner Lordschaft eine Nachricht überbringen?«
»Danke sehr, ich werde selbst hingehen. Wenn Sie mir freundlicherweise den Weg sagen könnten.«
In ihrer Eile erschienen ihr die Korridore endlos lang. Sie wollte Geoffrey nicht länger als nötig auf die Folter spannen.
Und wenn man von seiner unglücklichen Lage absah, so könnte er außerdem kalte Füße bekommen und dann beschließen, doch kein Geständnis abzulegen. Sie hatte das Gefühl, es wäre am Ende allen am meisten gedient, wenn sie die ganze Geschichte schon kannte, ehe Alec nach Wentwater Court zurückkehrte.
Endlich fand sie das Büro. Durch die offene Tür hörte sie die Stimme des Grafen. Als sie klopfte, rief er eher ungeduldig: »Herein!«
Das kleine Zimmer erinnerte sie an die Gutsverwaltung ihres Vaters auf Fairacres. Auf den Bücherregalen lagen ein geordnetes Chaos an landwirtschaftlichen Büchern und Zeitschriften, Auszeichnungsschleifen, Pokalen und Abrechnungsbüchern.
Landkarten hingen an der Wand. Auf dem Schreibtisch waren ein Haufen Papiere und ein Dorn mit bezahlten Rechnungen, dazwischen lag ein offenes Geschäftsbuch. Am Schreibtisch saß ein ihr unbekannter Mann. Auf den beiden Stühlen direkt vor ihr saßen Lord Wentwater und sein ältester Sohn. Alles erhob sich, als sie eintrat.
James lächelte Daisy unsicher an. Sie ignorierte es. Für den spürte sie kein Mitleid.
»Lord Wentwater, könnte ich Sie kurz sprechen?«
Seine ernsten Augen forschten in ihrem Gesicht nach und sahen sie sorgenvoll an. »Selbstverständlich, Miss Dalrymple.«
Er erhob sich und begleitete sie hinaus in den Korridor, wobei er hinter sich die Tür schloß.
Was in aller Welt sollte sie ihm denn jetzt bloß sagen? Gab es irgendeine Möglichkeit, ihn auf den schrecklichen Schock vorzubereiten, der ihm bevorstand? Daisy hatte einfach keine Vorstellung.
»Würden Sie bitte mit in Ihr Studierzimmer kommen? Gleich sofort?«
Er holte erschrocken Luft. »Nicht schon wieder eine Leiche?«
»Nein!« Reuevoll berührte sie seine Hand. »Nein, nichts dergleichen. Aber ich glaube trotzdem, Sie sollten besser mitkommen.«
»Gut, wenn Sie meinen.« Er ging kurz noch einmal in sein Büro zurück, um seinem Erben und dem Verwalter zu sagen, man solle ohne ihn fortfahren. Dann ging er mit Daisy zurück zur Halle und weiter ins Arbeitszimmer.
Geoffrey stand immer noch mit hängenden Schultern am Fenster, und seine Stirn lag jetzt erschöpft an der Glasscheibe.
Er dreht sich rasch um und richtete sich dabei auf, als sein Vater Daisy in den Raum folgte.
»Sir, ich ...« Seine Stimme zitterte. »Ich muß dir etwas sagen.«
»Mein lieber Junge!« Der Graf vergaß Daisy und ging eilig an ihr vorbei, seinem jüngsten Kind die Hände in einer fast bittenden Geste ausgestreckt.
Sie reichten sich die Hände, zwei wohlerzogene englische Gentlemen, die nicht in der Lage waren, sich versöhnlich in die Arme zu nehmen. Dann führte Lord Wentwater seinen Sohn zu den mit dunkelrotem Leder bezogenen Ohrensesseln am Kamin, hieß ihn sich setzen und reichte ihm ein Glas Brandy, das er vom Flaschenhalter auf einem Ecktisch eingeschenkt hatte.
Dann setzte er sich in den anderen Sessel. Daisy zog sich zum hochlehnigen Stuhl am Schreibtisch zurück. Der Graf schien sie nicht mehr wahrzunehmen, doch Geoffreys Augen suchten die ihren, ehe er einen Schluck aus seinem Glas nahm.
Er richtete sich auf, bereit, seine Übeltaten zu gestehen und wie ein Mann seine Strafe entgegenzunehmen, wie es ihm gelehrt worden war. »Vater, ich muß dir erklären ...«
»Warte!« Annabel erschien im Türrahmen.
Geoffrey sprang auf. »Nein! Du hast mit der ganzen Sache nichts zu tun!«
Mit eiligen Schritten ging sie durch den Raum und stellte sich neben ihren Ehemann, wo sie ihrem Stiefsohn ins Angesicht blickte. »Mein lieber Junge,« sagte sie leidenschaftlich, »du kannst einfach nicht glauben, ich würde zulassen, daß du allein alle Schuld auf dich nimmst.«
14
»Ich bin an dem Abend früh zu Bett gegangen«, begann Annabel leise, wobei sie auf ihre
Weitere Kostenlose Bücher