01 - Neptun kann warten
ÄCHTNISTOD
In jener Nacht träumte er lebhaft, diesmal von seiner eigenen Vergangenheit, nicht von Charlies. Er träumte von seinen Eltern, seinem Bruder Joe und von Megan – von der Zeit, bevor sie alle beim Einsturz des Ärmelkanaltunnels ums Leben gekommen waren; er träumte von dem Tag, als er sie zum letzten Mal sah, ihnen in St. Louis auf Wiedersehen sagte, nachdem Joe und Megan ihre Tochter Dakota und Megans Eltern abgesetzt hatten. Die vier fuhren auf einen »Erwachsenen-Urlaub« nach London und Paris. John hingegen wollte zunächst einen Flug nach Bogota, Kolumbien, und dann die Railgun-Rampe nehmen. Ihm stand ein Dienstflug in den Weltraum bevor, während seine Familie dem Tode entgegenreiste. Aber das wussten sie zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.
Er träumte von Dakota, die sich auf der Beerdigung verwirrt und zitternd an ihn gedrückt hatte, aber zu erschüttert war, um viele Worte zu verlieren. Ihre Augen hingegen, diese grünen Bandicut-Kinderaugen, suchten seinen Blick lange genug, dass er eine stumme Bitte in ihnen zu lesen vermochte. Sie bat ihn darum, er solle sie mit in den Weltraum nehmen. Wenn nicht sofort, dann bald. Schon immer war sie verrückt nach dem All gewesen, fragte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit über seine Arbeit aus. Die Erfüllung dieser Bitte kam natürlich gar nicht in Frage; mit ihren neun Jahren war sie noch viel zu jung für einen Raumflug, und was sollte sie auf L5 auch schon tun? Megans Eltern waren jetzt Dakotas Erziehungsberechtigte. Sie hielten nicht allzu viel von Weltraumjobs, und auch wenn er im Gegenzug nicht sonderlich viel von ihnen hielt, konnte er doch nichts daran ändern.
Dann veränderte der Traum sich, und Bandicut trieb durch einen dünnen, mit Sternen durchsetzten Nebel, raste hindurch, um jemanden einzuholen, von dem er getrennt worden war, aber er konnte sich nicht so recht vorstellen, um wen es sich dabei handelte …
***
Der dritte Tag auf der Förderraupe unterschied sich kaum vom zweiten, abgesehen davon, dass Charlie besorgt zu sein schien, als sie die Schürfroute wieder und wieder abfuhren, und bei jeder Fahrt ein klein wenig tiefer in die Mondoberfläche vordrangen. Charlie ärgerte sich natürlich über die Zeit, die sie so verloren, und die Tatsache, dass sich ihm keine Gelegenheit bot, in seine Höhle zum Translator zurückzukehren. Bandicut, der in seinem Klappsitz unter dem unheilverkündenden Auge Neptuns auf und ab wippte, war viel zu sehr mit der eigenen Langeweile beschäftigt, als dass er dem Quarx eine Hilfe hätte sein können. Zwar mochte er seine Kollegen, aber nicht die Eintönigkeit seiner Arbeit; ihm war so langweilig, dass er nicht einmal Interesse für Charlies Problem aufzubringen vermochte, auch wenn es ihn theoretisch sehr beschäftigte: Schließlich ging es um die Sicherheit der gesamten Erde. Bedauerlicherweise war das Problem sehr theoretisch. Seine Langeweile hingegen war sehr real und greifbar.
///Es könnte sein, dass wir einen Raver stehlen müssen,
um zur Höhle zu kommen///,
murmelte Charlie; er klang, als rede er mehr mit sich selbst als mit seinem Wirt.
/Da haben wir ja rosige Erfolgsaussichten/, brummte Bandicut und steuerte die Drohnen um eine scharfe Kurve.
///Du musst mir hier heraushelfen.///
/Lass uns später darüber reden, okay?/ Die Wahrheit war: Bandicut hätte das Quarx selbst dann nur begrenzt beruhigen können, wenn er mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen wäre; immerhin ließ sich nicht absehen, wann seine Vorgesetzten den Unfall zu den Akten legen und Bandicut wieder auf Prospektionsdienst schicken würden.
///Ja … später … ///,
wisperte das Quarx und rührte sich schwach.
/He, ist mit dir alles in Ordnung da drinnen?/, erkundigte sich Bandicut und schielte zu den wirbelnden Drohnen zurück, während das Kettenfahrzeug auf einen geraden Kurs ging.
Er erhielt keine Antwort.
***
Erst als sie wieder in der Basis waren, wurde ihm bewusst, dass Charlie nicht lediglich besorgt war; er fühlte sich unwohl. Bandicut durchfuhren Schauder gelegentlich aufwallender Qual, und ein oder zweimal blitzten Traumsegmente quarxischer Erinnerung in ihm auf: flackernde Bilder von außerirdischen Wesen, fremden Welten und Trauergefühle wegen eines undefinierbaren Verlustes.
»Geht’s dir gut, Bandie?«, fragte Jake und wandte sich von seinem Spind zu ihm um. Der Eskimo schloss den Reißverschluss seines legeren Overalls. »Du siehst ein wenig grün im Gesicht
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