01 - Nicht ohne meine Tochter
von Judys Schwiegermutter war sehr aufschlussreich. In dem Augenblick, als wir das Haus betraten, hörten wir laute amerikanische Musik, und es bot sich uns ein unglaubliches Bild: Schiitische Moslems, die Rock 'n Roll tanzten. Die Frauen trugen westliche Kleider, und niemand machte sich die Mühe, sich mit einem Tschador oder Rusari zu verhüllen. Die Gäste wurden ohne ihr Wissen zu meinen Mitverschwörern. Sie fühlten sich sehr geehrt, einen amerikanischen Arzt auf ihrem Fest zu haben, sodass Moody sofort von aufmerksamen Zuhörern umringt war. Er sonnte sich in dieser Ehrerbietung, während Judy mich in ein Schlafzimmer zog, damit ich den Brief schreiben konnte. Dort wartete Raschid bereits.
»Ich habe einen Freund, der Leute in die Türkei schmuggelt.«, sagte er. »Es kostet dreißigtausend Dollar.« »Geld spielt keine Rolle«, antwortete ich. »Ich will nur mit meiner Tochter hier herauskommen.« Ich wusste, dass meine Familie und meine Freunde jede Summe aufbringen wollten und konnten, die dafür nötig war. »Wann kann es losgehn?«, fragte ich begierig. »Im Augenblick ist er in der Türkei, und bald wird das Wetter schlechter werden. Ich glaube nicht, dass Sie sich während des Winters auf den Weg machen können, nicht vor der Schneeschmelze. Rufen Sie mich in zwei Wochen an. Ich werde mich inzwischen erkundigen.« Ich verschlüsselte Raschids Telefonnummer und schrieb sie in mein Adressbuch. Er verließ das Zimmer, aber Judy und ich blieben noch lange dort, auch als ich Moodys Brief schon längst geschrieben hatte. Fortwährend blickte ich über meine Schulter zur Tür, aus Angst, Moody könnte hereinkommen, weil er mich suchte. Aber er kam nicht.
Ich gab Judy die Briefe, die ich geschrieben hatte, und sie versprach, sie in Frankfurt abzuschicken. Wir sprachen sehr viel über Amerika, als ich ihr bei der bittersüßen Arbeit half, für ihre Abreise aus dem Iran am nächsten Tag zu packen. Weder Judy noch ich wussten, ob sie für mich etwas erreichen oder ob Raschids Freund mich und Mahtab in die Türkei bringen konnte, aber sie war entschlossen, ihr Möglichstes zu tun. »Ich habe noch andere Freunde, zu denen ich Kontakt aufnehmen werde.«, sagte sie.
Am Ende des Abends befand sich Moody in einem Begeisterungstaumel. »Raschid hat mir einen Job in seiner Klinik angeboten.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Jetzt muss ich feststellen, wie es mit meiner Zulassung steht.« Es war spät, als wir uns verabschiedeten. Judy und ich gingen mit Tränen in den Augen auseinander, denn wir wussten nicht, ob wir uns je wiedersehen würden.
Ameh Bozorg war es gewöhnt, freitags die ganze Familie bei sich zu Hause zu versammeln, um den Tag zu feiern, doch Moody fühlte sich immer weniger zu seiner Schwester hingezogen, und eines Tages erklärte er, dass wir für den kommenden Freitag andere Pläne hätten. Wie das Schicksal es wollte, wurde Ameh Bozorg am Donnerstag Abend sterbenskrank. »Mutter stirbt!«, sagte Zoreh Moody am Telefon. »Du musst sofort kommen und die letzten Minuten bei ihr verbringen.« Moody argwöhnte zwar eine List seiner Schwester, war aber dennoch besorgt und raste mit uns im Taxi zu ihrem Haus. Zoreh und Fereschteh führten uns in das Schlafzimmer ihrer Mutter, wo Ameh Bozorg in der Mitte auf dem Boden lag, ihren Kopf mit Lappen wie mit einem Turban umwickelt und mehr als zwanzig Zentimeter hoch in Decken gehüllt. Schweiß, den sie mit der Hand wegwischte, rann ihr von der Stirn. Sie krümmte sich vor Schmerzen und stöhnte die ganze Zeit in Farsi: »Ich sterbe. Ich sterbe.« Madschid und Reza waren schon da, andere Verwandte waren auf dem Weg. Moody untersuchte seine Schwester gründlich, konnte aber keinerlei Hinweise auf eine Krankheit finden. Er flüsterte mir zu, dass sie vermutlich eher wegen der vielen Decken, die man über ihr aufgeschichtet hatte, schweißgebadet sei, als aufgrund eines Fiebers. Aber sie heulte vor Schmerzen. Sie sagte, ihr ganzer Körper täte ihr weh, und stimmte wieder ihr »Ich sterbe.« an.
Zoreh und Fereschteh machten eine Hühnersuppe. Sie brachten sie ins Sterbezimmer, und jedes einzelne Familienmitglied flehte Ameh Bozorg inständig an, sich zu stärken. Dem jüngsten Sohn, Madschid, gelang es, einen Löffel voll Suppe an ihre Lippen zu bringen, aber sie hielt den Mund geschlossen und weigerte sich, zu schlucken. Schließlich überredete Moody seine Schwester, einen Löffel Suppe zu sich zu nehmen. Als sie die Nahrung aufnahm, brachen
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