01 Nightfall - Schwingen der Nacht
E nahm das glitschige Messer in die andere Hand und wischte die verschwitzten Finger an seiner Jeans ab. Dann nahm er das Messer wieder in die Rechte und fuhr mit der Arbeit fort.
Er griff nach dem Rand des Implantats. Stocherte mit dem Messer. Dann versuchte er es wieder mit den Fingern. Hier war er also, in einem der billigen Motels, die er so hasste, saß
auf einem billigen Stuhl und holte einen Satellitenchip aus seinem verdammten Fleisch, und zwar mit einem seiner verdammten Messer.
Herzlichen Dank, Tom-Tom.
E blinzelte den Schweiß aus den Augen und schob dann die Messerspitze unter das Implantat. Er bog es nach hinten, und mit einem plötzlichen, scharfen Schmerz, der sein ganzes Rückgrat in Brand zu versetzen schien, löste sich die Wanze.
Zitternd und trotz des Feuers am unteren Rand seines Schädels ließ E die Hände sinken und legte sie auf den Tisch vor sich. Die blutige Klinge fiel klirrend auf die billige Holzimitatoberfläche. Zwischen den Fingern hielt er einen winzigen, blutverschmierten Sender. Er drückte mit dem Zeigefinger dagegen. Nichts.
Es Faust schloss sich um das Implantat. Er drehte sich auf dem Stuhl um und sah auf die Inhalte der Akten, die auf dem fleckigen Laken verstreut lagen, und auf das Bild auf dem Bildschirm des billigen Laptops. Es zeigte Dante im Alter von dreizehn oder vierzehn, wie er den Hals seines Pflegevaters mit den Fingernägeln aufriss. Sein schönes blasses Gesicht war blutbespritzt. Mrs. Prejean war schon tot. Ihr Leichnam lag auf dem Boden des Esszimmers. Von ihrem Kopf waren kaum mehr als weißer Knochen, einige Haarsträhnen und Hirnmasse übrig geblieben.
Wow, fantastisch! Weiter so, kleiner Bruder, weiter so!
»Pflegeeltern«, schnaubte E. Ja, klar. Wenn man Zuhälter als Eltern betrachtete.
Natürlich wussten Bad-Seed-Mama und Bad-Seed-Papa über die Prejeans Bescheid. Sie wussten, wie die beiden die Kinder benutzten, die ihnen der Staat überantwortete. Sie wussten, dass sich die beiden vor Begeisterung wahrscheinlich in die Hose machten, als sie Dante zugeteilt bekamen.
Die Prejeans hatten mit Dante viel Kohle verdient. Natürlich hatten einige ihrer Kunden selbst mit ihrem gebändigten Pflegekind ein paar unangenehme Verletzungen davongetragen. Er hatte etwas über einen abgebissenen Penis gelesen – oder zumindest einen fast abgebissenen.
E lachte. Er stand auf und ging ins Bad. Dort klappte er den Toilettendeckel hoch, öffnete die Hand und ließ das Implantat in die Schüssel fallen. Dünne Blutfäden färbten das Wasser rot. Er spülte.
Jetzt konnte Tom-Tom ja mal versuchen, ihn wiederzufinden – sollte Johanna Moore ruhig schwitzen.
Mama, ich komme jetzt nach Hause, und ich komme nicht allein.
Er kehrte ins Zimmer zurück, kniete sich neben das Bett und ließ die CD aus dem Laptop auswerfen. Dann klappte er den Deckel zu und schob die vielen Dokumente, Berichte und Fotos wieder in ihre jeweiligen braunen Umschläge zurück.
Ein Foto stach ihm dabei ins Auge, und er zog es aus dem Stapel. Es zeigte einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Ein sandblonder Haarschopf stand an seinem Hinterkopf in die Höhe, und er grinste in die Kamera. Hinter ihm lagen ein Mann und eine Frau auf einem Sofa mit Rebenmuster, auf dessen Kissen Blut geschmiert war. Ein großes Loch befand sich in der Schläfe des Mannes – in Papas Schläfe –, und ein ähnlich großes in der Stirn der Frau – Mama . Eine Waffe lag auf dem Boden direkt neben der herabbaumelnden Hand des Mannes.
E konnte sich nicht daran erinnern, dass er als kleiner Junge gesehen hatte, wie sein Vater zuerst seine Mutter und dann sich selbst im Standard-Mord/Selbstmord-Szenario erschossen hatte. Falls er Zeuge geworden war, hatte es ihn anscheinend nicht sonderlich beeindruckt. Er konnte sich an das Geschehen
nicht erinnern und hatte bisher noch nie Alpträume gehabt.
Jedenfalls nicht wegen seiner Eltern.
Er schob das Bild zwischen die anderen Papiere und legte dann alles zusammen wieder in die Mappe. Seine Eltern waren also gestorben, als er knapp drei Jahre alt gewesen war, und von diesem Augenblick an hatte Bad Seed sein Leben in die Hand genommen. Dantes Mutter war während der Schwangerschaft von Bad Seed entführt und dann umgebracht worden, nachdem sie ihn geboren hatte.
E schüttelte den Kopf. Ein geborener Vampir. Wer hätte das gedacht?
Wieder am Küchentisch mixte er sich noch einen Gin Tonic. Er nahm einen langen Schluck des kühlen Getränks und spülte sich so
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