01 - So nah am Paradies
Nachmittag und Abend geschehen war.
Nachdem Alana die Küche verlassen hatte, hatte er einfach nur den Kassettenrekorder angestarrt, der weiterlief. War er schockiert? Er hatte die rosafarbene Brille schon vor Jahren abgenommen.
Er wusste, wie hässlich das Leben sein konnte, wie gewalttätig. Er hatte in Schicksalen herumgegraben und die Wunden, die Narben und die Geheimnisse gefunden. Sie schockierten ihn nicht, und sie berührten ihn schon lange nicht mehr.
Aber er war lange in der Küche sitzen geblieben, in der immer noch der Duft des Kaffees hing. Und er litt, weil er sich daran erinnerte, wie blass ihr Gesicht und wie ruhig ihre Stimme gewesen war, als sie ihm die Geschichte erzählt hatte. Er hatte sie dann allein gelassen, da er wusste, sie brauchte das Alleinsein.
Er war in die Stadt gefahren. Abstand, verordnete er sich selbst, würde sicher helfen. Ein Journalist brauchte Abstand, genauso wie er intimste Kenntnisse brauchte. Gerade die Kombination davon konnte einer Geschichte erst die Wahrheit, die Kraft geben. Und war es nicht schließlich immer die Geschichte, die zuerst kam?
Die Luft hatte sich erwärmt und kündigte den März an. Bald würde der Frühling sich unaufhaltsam Bahn brechen. Und wenn der Frühling zu Ende ging, sollte das Buch fertig sein. Wie, das war ihm allerdings überhaupt nicht mehr klar.
Bei seiner Heimkehr hatten die Jungen im Hof mit dem Hund gespielt. Es war ein großes Gejage, Geschrei und Gebell gewesen. Vom Wagen her hatte Dorian sie eine Zeit lang gedankenverloren beobachtet, bis Chris zu ihm herüberrannte und ihn zu ihrem Spiel einlud.
Selbst jetzt, Stunden später, sah Dorian noch das strahlende Gesicht von Chris vor sich, wie er ihn mit großen, unschuldigen Augen angesehen hatte. Ganz vertrauensvoll hatte der Kleine seine Hand ergriffen und ihm von seinen aufregenden Erlebnissen in der Schule erzählt.
Sie waren um das Haus herumgelaufen und in die Küche. Alana hatte am Herd gestanden. Als sie sich umwandte, trafen sich ihre Augen und ließen einander nicht los. Er hatte Spannung erwartet, aber sie kam nicht auf, auch nicht während des Essens oder später, als sie ein Brettspiel mit den Kindern spielten. Dann wurden die Kinder ins Bett geschickt, und auch Alana zog sich in ihr Zimmer zurück.
Seitdem hielt sich Dorian in seinem Zimmer auf, ohne Ruhe und Entspanntheit finden zu können. Er hatte eine packende Geschichte, die er nur aufzuschreiben brauchte. Sie enthielt alles: Liebe, Betrug, Sex, Gewalt. Und sie war nicht erdacht, sie war wirklich.
Er erinnerte sich daran, wie vertrauensvoll die kleine Hand in seiner gelegen hatte.
Fluchend erhob sich Dorian vom Schreibtisch. Er konnte einfach nicht. Er konnte es einfach nicht schwarz auf weiß zu Papier bringen, was Alana ihm erzählt hatte. Selbst wenn er es noch so vorsichtig formulieren würde, es würde immer hässlich und unverzeihlich bleiben. Und das Kind war so unschuldig und vertrauensvoll.
Sein in Jahren ausgereiftes Jagdgespür als Reporter, sein Können, das seine Biografien so lebensnah und packend gemacht hatte, drängten ihn zur Wahrheit. Doch dazwischen drängte sich ihm das Bild eines kleinen Jungen mit einem schelmischen Lächeln auf, der ihm die Arme entgegenstreckte. Er erinnerte sich an Ben, der allein in düsterer Stimmung mit seinen
Spielzeugfiguren auf dem Bett saß. Und er erinnerte sich an Alana, die ihre Finger mit seinen verschlungen hatte und ihm ein Gefühl von Harmonie vermittelt hatte.
Dorian fuhr sich durchs Haar. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Er steckte mitten in einem schweren inneren Kampf. Er hatte die erste, die grundsätzliche Regel eines jeden Reporters überschritten: sich gefühlsmäßig nicht einzulassen.
Nun, er steckte mittendrin, und er hatte keine Ahnung, wie er da herauskommen sollte.
Zum Teufel, musste er überhaupt wieder
herauskommen?
Entschlossen verließ Dorian sein Zimmer, überquerte den Korridor und klopfte an Alanas Tür.
Alana saß an einem kleinen Schreibtisch und schrieb einen Brief. Sie blickte hoch und schob ihr Schreibzeug zur Seite, als hätte sie Dorian erwartet.
„Wir müssen reden."
„Gut. Schließ die Tür."
Er schloss sie. Jetzt gab es keine Barriere zwischen ihnen, keinen Kassettenrekorder, der einem Gespräch eine unpersönliche Note geben konnte. Was jetzt gesagt werden würde, war nur zwischen ihnen beiden - für sie beide.
Das Zimmer strahlte Ruhe und Weiblichkeit aus -
so wie sie. Falls es hier einmal
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