01 - So nah am Paradies
Zubettgehzeit nicht. Weil Alana ihre Jungen gut verstehen konnte, ließ sie sie noch einmal zum Fohlen hinübergehen, um ihm Gute Nacht zu sagen, obwohl sie beide schon längst im Bett liegen sollten. Müde, aber zufrieden
machte sie es sich schließlich vor dem Kamin im Wohnzimmer bequem.
„Das war ein Tag." Dorian setzte sich neben sie.
„Ich bin froh, dass die Jungen es miterleben konnten. Das ist etwas, das sie nie vergessen werden - und ich auch nicht." Sie seufzte, als sie plötzlich daran dachte, wie sie selbst Leben in sich wachsen gespürt hatte und wie es gewesen war, es in eine nicht gerade perfekte Welt zu bringen.
„Müde?"
„Ein wenig."
„Ich glaube eher, gedankenverloren."
Sie zog die Beine an und beobachtete das Spiel der Flammen. „Du siehst zu viel in ganz einfachen Sachen."
„Merkwürdig, ich würde sagen, ich hätte noch lange nicht genug gesehen."
Sie verscheuchte ihre Wünsche und Sehnsüchte und stellte sich der Wirklichkeit. „Morgen wirst du neue Fragen haben und von mir Antworten erwarten."
„Darum bin ich hier, Alana." Aber er war sich nicht sicher, ob das die ganze Wahrheit war - nicht mehr.
„Ich weiß." Sie musste es akzeptieren, obwohl sie sich etwas anderes gewünscht hätte. „Ich habe etwas versprochen, und ich werde versuchen, es zu halten."
Er berührte ihr Haar und wünschte, es gäbe andere Wege, um das zu erfahren, was er von ihr erfahren musste. „Im Augenblick habe ich keine Fragen."
Sie schloss kurz die Augen. Vielleicht war ja doch noch ein wenig Platz für Sehnsüchte. „Heute Abend, nur heute Abend, würde ich mir gern vormachen, dass es kein Buch gibt, dass es keine Fragen gibt."
Er wusste, er könnte sie jetzt bedrängen. Im Augenblick war sie offen genug, um ihm alles zu erzählen. So, als ob er nur die richtigen Knöpfe drücken müsste und die Antworten würden heraussprudeln. Eigentlich war er dazu verpflichtet.
Er legte den Arm um ihre Schulter und beobachtete mit ihr die Flammen.
„Zu Hause hatten wir einen riesigen Kamin. Meine Mutter behauptete immer, man könne darin einen Ochsen braten."
Entspannt schmiegte sie sich an ihn. „Warst du glücklich?"
„Ja - auch wenn mir das Melken der Kühe nicht unbedingt als höchstes Glück erschienen ist. Wir hatten einen Bach und eine riesige Eiche. Ich habe unter ihr gesessen, habe das Wasser plätschern hören, habe gelesen und mich dabei in fremde Länder hineingeträumt."
Sie lächelte. „Und dann hast du dich
entschlossen, Schriftsteller zu werden."
„Ich habe mich entschlossen, auf eigene Faust Wahrheiten zu verbreiten. Darum bin ich auch zunächst Reporter geworden. Das Gebot der freien Presse hat mich wohl getrieben." Er lachte über sich selbst. Er hatte bis jetzt gar nicht gemerkt, dass er diese Fähigkeit von Alana gelernt hatte. „Ich habe erkannt, dass man sich dazu zunächst durch eine Menge Schmutz arbeiten muss."
„Die Wahrheit..." Sie schloss die Augen und wünschte, das Wort hätte keinen so bitteren Beigeschmack. „Sie ist sehr wichtig für dich."
„Ohne sie ist der Rest doch nur Tünche, nur Entschuldigung."
„Und warum dann später Biografien?"
„Weil es faszinierend und spannend ist, das Leben eines Menschen zu erforschen, eines bestimmten Menschen in einer bestimmten Zeit, und herauszufinden, wie viele andere Leben davon betroffen waren, welche Spuren hinterlassen und welche Fehler gemacht wurden."
„Manchmal sind Fehler sehr persönlich."
„Darum schreibe ich nie eine Biografie ohne entsprechende Zustimmung."
„Und wenn eines Tages jemand deine schreibt?"
Er schien das belustigend zu finden. Sie hörte sein leises Auflachen, als seine Wange über ihr Haar strich. Er konnte nicht wissen, wie ernst es ihr war.
„Vielleicht schreibe ich sie selbst - mit allen Haken und Ösen."
„Hast du jemals etwas gemacht, worüber du dich wirklich geschämt hast?"
Er brauchte nicht lange nachzudenken. „Ich habe genügend Schritte in die falsche Richtung gemacht."
„Und du würdest darüber schreiben, egal, was andere darüber denken könnten?"
„Du kannst mit der Wahrheit nicht feilschen, Alana." Er erinnerte sich an das, was sie ihm über Chris' Empfängnis gesagt hatte, und
fuhr fort: „Manchmal, wenn es sehr wichtig ist, kannst du nur so tun, als ob du sie nicht hörst."
Sie beobachtete das Feuer und dachte darüber nach. Sie dachte lange darüber nach.
Da Dorian früh mit der Arbeit anfangen wollte, war er unten, bevor die Jungen ihr
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