01 - So nah am Paradies
Ben seinen Bruder und stieg sie in einem Zickzack hinauf, den er in mühsamer Kleinarbeit
herausgefunden hatte. „Sonst hört er uns."
„Wir sollen ihn doch nicht stören." Doch Chris folgte ganz genau dem Weg seines Bruders.
„Wir stören ihn nicht. Wir sehen ihn uns nur an."
„Aber Mom hat gesagt ..."
„Hör zu." Ben blieb stehen und senkte seine Stimme zu einem dramatischen Flüsterton. „Wenn er jetzt gar kein Schriftsteller ist? Wenn er ein Dieb ist?"
Chris riss die Augen auf. „Ein Dieb?"
„Ja." Der Gedanke regte Bens Fantasie an, und er beugte sich dicht an das Ohr seines Bruders. „Er ist ein Dieb. Er wartet, bis wir heute Nacht schlafen, und dann räumt er unser Haus aus."
„Auch meine Lastwagen?"
„Bestimmt. Und ich wette", zog Ben spannungsvoll in die Länge, „er hat eine Waffe. Wir müssen also ganz ruhig sein und ihn nur beobachten."
Überzeugt nickte Chris und schlich hinter seinem Bruder die letzten Stufen hoch.
Die Hände in die Hosentaschen vergraben, blickte Dorian aus dem Fenster. Die Hügellandschaft erinnerte ihn an die, die er zu Hause aus seinem Kinderzimmerfenster gesehen hatte. Über allem lag Nebel, und der Regen strömte herunter. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen.
Er fühlte sich angenehm überrascht. Er hatte sich Alana O'Hara Rockwells Haus als ein elegantes Vorzeigeanwesen vorgestellt, mit einer ganzen Schar von Bediensteten. Doch er hatte ein schlichtes, gemütliches Heim gefunden.
Er hatte zwar gewusst, dass sie Kinder hatte, doch die hatte er mit Kindermädchen oder Internaten in Verbindung gebracht. Denn die Frau, die er von Bildern kannte, in einen weißen Nerz gehüllt und mit Diamanten geschmückt, die hätte weder Zeit noch Lust gehabt, sich um Kindererziehung zu kümmern.
Wenn sie diese Frau nicht war, wer zum Teufel war sie dann? Es war seine Aufgabe, das Leben von Chuck Rockwell zu erhellen, doch Dorian musste sich eingestehen, an der Witwe interessierter zu sein.
Wie eine Witwe wirkt sie eigentlich nicht, dachte Dorian und stellte seine Koffer zum Auspacken aufs Bett. Eher wie eine Studentin während der Semesterferien. Andererseits war sie so etwas wie eine Schauspielerin gewesen. Und vielleicht war sie es immer noch.
Ein kaum wahrnehmbares Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Als Reporter hatte sich Dorian häufig genug in dunklen Gegenden und
zwielichtigen Bars aufhalten müssen, um selbst im Hinterkopf Augen bekommen zu haben. Ohne sich etwas anmerken zu
lassen, packte er seinen Koffer aus und blickte gleichzeitig vorsichtig in den Spiegel am Ende des Bettes.
Langsam öffnete sich die Tür seines Zimmers, erst einen Spaltbreit, dann weiter. Und schließlich erkannte er im Spiegel zwei Augenpaare und hörte angespannte Atemzüge.
„Er sieht wie ein Dieb aus", wisperte Ben aufgeregt. „Er hat einen verschlagenen Blick."
„Meinst du, er hat eine Pistole?"
„Wahrscheinlich eine ganze Sammlung." Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als die Tür ganz aufgerissen wurde und die zwei Jungen ins Zimmer purzelten.
Vom Teppich her blickte Chris hoch in das Gesicht des Mannes, das ihm meilenweit entfernt zu sein schien. Ängstlich schob der Kleine die Unterlippe vor. „Sie kriegen meine Lastwagen nicht." Es fehlte nicht viel, und er hätte laut nach seiner Mutter geschrien.
„Okay." Amüsiert kniete sich Dorian neben ihm nieder. „Kann ich sie vielleicht manchmal sehen?"
„Vielleicht." Chris warf seinem Bruder einen Blick zu. „Sind Sie ein Dieb?"
„Chris!" Verlegen erhob sich Ben. „Er ist eben noch ein Kind."
„Bin ich nicht. Ich bin sechs."
„Sechs." Dorian bemühte sich um einen beeindruckten Blick. „Und du?"
„Ich bin acht - fast. Mom glaubt, Sie sind Schriftsteller."
„Manchmal glaube ich das selbst." Ein hübscher Junge, dachte Dorian, seine Augen strahlen eine unwiderstehliche Wissbegier aus. „Ich bin Dorian."
Er streckte den beiden eine Hand entgegen.
„Ich bin Ben." Er ergriff Dorians Hand, stolz auf die Begrüßung von Mann zu Mann. „Das ist Chris."
Mit einem verlegenen Lächeln ergriff auch Chris die ausgestreckte Hand. Dorian konnte sich nicht zurückhalten und fuhr dem Kleinen übers Haar.
Chris grinste verschmitzt. „Mom sagte, wir sollten Sie nicht stören."
„Ich sage es euch, wenn ihr mich stört."
Chris nahm ihn gleich beim Wort. Er kletterte aufs Bett und plapperte über alles Mögliche, während Dorian auspackte. Ben hielt sich dagegen zurück, beobachtete aber aufmerksam
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