01 - Tage der Sehnsucht
Findelhaus gehört.«
»Dort war ich
zunächst auch. Ich blieb da, bis ich sieben war, und wurde dann ins Waisenhaus
gebracht, damit ich zum Dienstboten ausgebildet werden konnte. Das Findelhaus
nannte mich Fiona. Das Waisenhaus fügte den Namen Ross hinzu.«
»Und warum wurdest
du nicht entlassen, um als Dienstbote zu arbeiten? Es ist ungewöhnlich, dass
dich das Waisenhaus so lange behalten hat.«
»Ich wurde im
Waisenhaus mit Saubermachen und Kochen beschäftigt. Mr. Sinclair nahm mich bei
sich auf, als ich dreizehn war.«
»Und wie alt bist
du jetzt?«
»Achtzehn, denke
ich.«
»So hat dich Jamie
die ganze Zeit bei sich gehabt und mir nie ein Wort davon gesagt.«
Fiona erwiderte
nichts.
Mr. Sinclair stand
auf, ging zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus. »Es regnet«,
sagte er zufrieden. »Wir werden uns hier nicht unnötig lange aufhalten. jetzt
sollten wir uns fürs Dinner, so gut wir können, herrichten. Überlass mir das
Gespräch. Ich werde für unsere Aufmachung schon eine Entschuldigung finden -
ich sage einfach, wir hätten den größten Teil unserer Garderobe nach London
vorausgeschickt. Klopfe in etwa zehn Minuten an meine Tür! Ich werde dich dann
nach unten bringen.«
Fiona nickte. Als
er hinausging, saß sie immer noch am Feuer und blickte verträumt in die
Flammen.
Während Mr.
Sinclair sich in ein schäbiges, schwarzes Dinnerjacket zwängte, das er vor zehn
Jahren gekauft hatte und das ihm jetzt um zwei Nummern zu klein war, dachte er
weiterhin an Fiona, wie sie so am Feuer gesessen hatte. Da wurde ihm mit einem Mal
das ganze Ausmaß seines Vorhabens bewußt. Wie konnte er nur ein so unschuldiges
junges Mädchen nehmen und es auf den Heiratsmarkt schleifen wie eine Kuh auf
den Viehmarkt?
Er dachte an die
vergangenen Wochen, und wie angenehm es gewesen war, sauberes Leinen zu tragen,
gutes Essen zu essen und am Abend in einer blitzblanken Wohnung zu sitzen. Er
hätte seine Anwaltspraxis wieder aufnehmen, weniger trinken und hart arbeiten
können. Es war der helle Wahnsinn, seine Hoffnungen auf ein geistig
minderbemitteltes Mädchen zu setzen.
Er grübelte und
grübelte. Als Fiona anklopfte und den Raum betrat, rief ihr Anblick bei ihm
erneut heftige Gewissensbisse hervor. Sie trug jetzt das andere Wollkleid, das
von stumpfer karmesinroter Farbe war und einen Schnitt aufwies, der längst aus
der Mode war. Die Ärmel waren lang und lagen eng am Handgelenk an, was die
fehlenden Handschuhe in etwa ausglich.
Zu seiner
Überraschung hatte sie ihr reiches Haar hochgesteckt. Sie sah wirklich
königlich aus, und Mr. Sinclair begann zu hoffen, dass ihre außergewöhnliche
Schönheit die Mitglieder der Abendgesellschaft daran hindern würde, die
Ärmlichkeit ihrer Kleidung zu bemerken. Großer Gott, sie könnten ihn ja für
einen Geizhals halten! »Du siehst sehr schön aus, Fiona«, sagte er und
tätschelte ihren Arm, bevor er ihn unter den seinen schob.
Ein Lakai wartete
draußen im Flur, um sie nach unten zu geleiten. Die Gäste, sagte er, hätten
bereits ihre Plätze eingenommen.
Pardon, dachte
Sinclair wieder. Es war doch noch gar nicht so lange her, dass sich da etwas
abgespielt hatte, etwas, das ein Dienstmädchen betraf, das unter seltsamen
Umständen tot aufgefunden worden war.
Der Lakai hielt
eine Tür auf, und ein Schwall Stimmen drang plötzlich in die vornehme Stille
des Hauses. Mr. Sinclair betrat mit Fiona am Arm den Speisesaal. Das Gespräch
verstummte schlagartig. Er sah zwei Reihen von Augenpaaren auf sich gerichtet
und faßte Fiona fester am Arm.
»Ich habe es euch
ja gesagt«, wandte sich Mr. Pardon an die Gesellschaft. »Mr. Sinclair, Sie
setzen sich dort drüben neben Mrs. Hudson, Miß Sinclair neben Lord Harrington,
wenn es Ihnen recht ist.«
Mr. Sinclair
seufzte innerlich. Er hätte Fiona lieber in seiner Nähe gehabt, saß aber neben
einer prächtig gekleideten drallen Matrone und wünschte sich nichts sehnlicher
als baldiges Tauwetter, damit die Kutsche früh am anderen Morgen abfahren
konnte.
Zusammen mit ihm
und Fiona waren sie zwölf Personen am Tisch. Die Männer trugen hervorragend
geschneiderte Anzüge, die Frauen funkelten nur so vor Schmuck. Ihre Augen
blickten hart. Er fand daher einfach nicht den Mut, sich wegen seines Anzuges
zu entschuldigen.
Das war also die
Welt, in der er, Roderick Sinclair, sein Debüt geben wollte. Er nahm nur einen
kleinen Schluck von dem exzellenten Bordeaux und ließ den Rest in seinem Glas.
Menschen wie diese
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