01 - Tage der Sehnsucht
Nachbildung eines Berges aus Engelwurz und
Pudding, auf dessen schneebedeckter Spitze die kleine Figur eines Mannes stand,
während die Abhänge von einem See aus Milchpunsch umspült wurden. »Papa sagt«,
fuhr Fiona fort, »dass eine schlichte Aufmachung Mitgiftjäger abschreckt. Er
hat furchtbare Angst vor Mitgiftjägern.«
In diesem
Augenblick blickte Mr. Sinclair herüber. Er fragte sich offensichtlich, worüber
sich sein Mündel unterhielt.
Fiona warf ihm ein
bezauberndes Lächeln zu. »Natürlich« fuhr Fiona munter fort, »ist Papa ein
großer Geizkragen, und ich denke, er sagt das von den Mitgiftjägern nur, um
seine Pfennigfuchserei zu entschuldigen.«
»Sie sind sehr
offen, Miß Sinclair.«
Fiona blickte ihn
mit großen Augen an. »Lord Harrington«, sagte sie streng, »Sie werden doch
nicht etwa wünschen, dass ich lüge.«
»Meine Wünsche
sollten Ihnen gleichgültig sein. Aber ich würde Ihnen raten, in Ihrer
Unterhaltung vorsichtiger zu sein, wenn Sie nach London kommen.«
»Warum?«
»Sie könnten bei
den Herren Widerwillen erregen.«
»Das werde ich
wahrscheinlich auf jeden Fall. Ich bin nämlich recht hässlich.«
»Unsinn. Sie sind
die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«
»Wir freundlich von
Ihnen, so etwas zu sagen. Aber der Ausdruck schlecht unterdrückter Langeweile
auf Ihrem Gesicht verrät, dass Ihr Kompliment eine Lüge ist.«
»Ich lüge nicht,
Miß Sinclair.«
»So? Dann müssen
Sie mir aber erklären, warum Sie mir zu vorsichtigerem Umgang mit der Wahrheit
geraten haben, während Sie doch offenbar das Recht für sich beanspruchen, die
Wahrheit immer frei heraus zu sagen.«
Die Antwort wäre
eigentlich gewesen: »Weil ich der Earl of Harrington bin und Sie ein
schottischer Niemand.« Aber Lord Harrington fühlte, dass ihn sogar die naive
Miß Sinclair für einen absoluten Narren halten würde, wenn er das sagte. »Ich
finde, das ist im Moment zu schwer zu erklären«, sagte er rasch, als er sah, dass
sich ein weiteres »Warum« auf den vollkommenen Lippen Fionas bildete. »Lesen
Sie viel?«
»Nichts Modernes.
Ich lese gern Gedichte.«
»Ali, ohne Zweifel
die romantischen Dichter.«
»Ja, ich mag
Gedichte«, erklärte Fiona, als ob er nichts gesagt hätte.
Dass sie die
Aufmerksamkeit Lord Harringtons erregt und so lange auf sich gezogen hatte,
weckte freilich bei den übrigen Damen alles andere als Freude. Zwei von ihnen,
Mrs. Hudson und eine Lady Miles, waren verheiratet. Eine dritte, Mrs. Jemina
Leech, Witwe, war Mr. Pardons augenblickliche Geliebte. Sie war genauso stark
geschminkt und blickte ebenso kalt wie er selber. Die beiden restlichen Damen
waren eine Miß Giles-Denton und eine Miß Plumtree. Miß Harriet Giles-Denton
war eine zarte Blondine, deren Gesichtszüge an eine Malve erinnerten. Miß
Bessie Plumtree war eine kleine, drahtige Brünette mit sehr spitzen Ellbogen
und dem Ausdruck dauernder Entrüstung auf dem hageren, blassen Gesicht. Beide
waren über die unerwartete Ankunft von Lord Harrington in helles Entzücken
ausgebrochen. Sie wohnten in der Umgebung und wurden bei ihrem Besuch von Mrs.
Hudson als Anstandsdame begleitet. Diese hatte den Müttern der beiden
versichert, Mr. Pardon gehöre zu den besten Kreisen, was immer über ihn geredet
werde, und seine Freundschaft werde beiden Mädchen in der kommenden Saison von
Nutzen sein.
Sowohl Harriet als
auch Bessie dachten jetzt daran, wie herzlich Lord Harrington sie vor dem
Dinner angelächelt hatte. In jede kühle Höflichkeitsgeste lasen sie
leidenschaftliche Zuneigung hinein, während sie in Miß Fiona Sinclair eine ganz
gewöhnliche, dreiste junge Person sahen, die sie ablehnten. Dass sie die
Aufmerksamkeit von Mr. Pardon erregte, waren sie noch bereit hinzunehmen. Denn
Mrs. Hudson hatte sie warnend darauf hingewiesen, dass Mr. Pardon sehr
lasterhaft sei. Sie hatte freilich hinzugefügt, dass es leider notwendig sei,
in der Gesellschaft den Umgang mit den Lasterhaften genauso zu pflegen wie mit
den Tugendhaften. Denn nur so könne man einen festen Platz auf der sozialen
Stufenleiter gewinnen.
Bis zur Ankunft von
Lord Harrington waren die Gäste den beiden hoffnungsvollen Debütantinnen
außerordentlich langweilig erschienen. Der einzige zum Heiraten geeignete Mann
außer ihrem Gastgeber war ein schwerfälliger Hauptmann mit großen Füßen.
Beide waren daher
fest entschlossen, Miß Sinclair -klar und deutlich in ihre Schranken zu
weisen, sobald sie sich mit den übrigen Damen in den Salon
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