01 - Tage der Sehnsucht
auszubreiten.
Die Kutschentür
öffnete sich, und ein wohlbeleibter Herr in altmodischer Kleidung bewegte sich
zentimeterweise rückwärts nach unten auf die Straße. Dann streckte er seine
Hand aus und half einer weiblichen Gestalt herunter, die eng in einen
Kapuzenmantel gehüllt war.
Der Herr drehte
sich um bemerkte Rainbird. »Holen Sie das Gepäck!« rief er.
Mr. Sinclair?«
fragte Rainbird leise.
»Derselbe.«
»Joseph!« rief
Rainbird.
Eine Hand in die
Hüfte gestützt, kam Joseph herausgetänzelt.
»Schaffen Sie Mr.
Sinclairs Gepäck hinein! Rasch!« fügte Rainbird hinzu, weil Joseph mit offenem
Mund dastand.
Mr. Sinclair
bezahlte den Kutscher. Es gab eine unangenehme Szene, als letzterer über das
schmale Trinkgeld in Wehklagen ausbrach.
Rainbird musste
noch nachträglich den Kopf schütteln, wenn er daran dachte, und wandte sich
wieder der Gegenwart zu. Müde stand er auf. Es war jetzt wohl an der Zeit, sich
um den Port zu kümmern. Schade, dass er beim Servieren nicht Miß Sinclair sehen
würde. Sie war zwar etwas verträumt und zerstreut, aber so bildhübsch, dass ihr
Anblick seinen Seelenschmerz immer merklich linderte. Denn nur allzu tief
empfand Rainbird die Demütigung, einem mit Armut geschlagenen Herrn zu dienen,
noch dazu, da er sich für die anderen Dienstboten verantwortlich fühlte. Auch
begannen schon die Diener in den benachbarten Häusern, höhnische, abschätzige
Bemerkungen zu machen.
Rainbird nahm die
halbe Karaffe Portwein und stieg die Treppe hinauf. Gute Dienstboten klopfen
nie an. Er öffnete die Tür des Salons und blieb angesichts der Szene, die sich
ihm darbot, wie angewurzelt stehen.
Mr. Sinclair, der
offenbar seine Anwesenheit nicht bemerkte, war dabei, Goldmünzen in eine
messingbeschlagene Kassette zu zählen. Das Gold glitt glitzernd durch die
Finger des alten Mannes. »Hundertundeintausend«, murmelte er.
»Hundertundeintausendundeins ...« Dann blickte er auf und sah den Butler. Er
schaufelte das Geld in die Kassette zurück, »so Viel«, wie Rainbird später
erzählte, »dass es an den Seiten herausquoll«.
»Ich bin ein armer
Mann«, stotterte Mr. Sinclair. »Sie haben nichts gesehen ... nichts.«
»Nein, Sir«,
erwiderte Rainbird gelassen, obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug. Er
setzte das Silbertablett mit der Karaffe und dem Glas auf einen Tisch, zog sich
zurück, stürmte in die Küche und erzählte stammelnd von dem Gold, das er
gesehen hatte. »Berge davon«, keuchte er. »Aber er ist ein Geizhals!«
Alle wandten sich
um und blickten die kleine Lizzie an, die zusammengekauert vor dem Kamin saß.
»Das kommt dabei
heraus, wenn man auf dich und deine papistischen Ansichten hört«, sagte Mrs.
Middleton verächtlich. »Du wirst den Küchenboden schrubben, bis er glänzt. Das
wird dir besser bekommen als Kerzen und gemalte Heiligenbilder.«
Oben zog Mr.
Sinclair traurig seine Weste aus der Kassette, hatte er sie doch als Unterlage
hineingestopft und seine Guineen obenauf gelegt, damit das Ganze wie der Hort
eines Geizkragens aussah. Er konnte nur hoffen, dass Rainbird mit den Dienern
in der Nachbarschaft schwatzte.
Aber es war Joseph, der mit dem Klatsch
begann, Joseph, der deswegen so verbittert war, weil sein Kollege Luke nebenan
in seiner pinkfarbenen Livree mit den goldenen Litzen immer auf und
abstolzierte.
Luke bemerkte
befriedigt Josephs neidischen Blick und sagte: »Bei dir reicht's bloß zum
Anschauen, du Pinsel. Dein Herr könnte sich nicht einmal meine Achselbänder
leisten.«
»Mein Herr«,
erwiderte Joseph hitzig, »steckt den deinen leicht in die Tasche.«
»Blödsinn!«
»Es ist die
Wahrheit. Er besitzt eine Kassette mit Tausenden und Abertausenden von Guineen.
Er ist ein Geizkragen. Das ist es.«
Zu Josephs
Befriedigung wurden Lukes Augen immer größer.
»Mr. Blenkinsop«,
rief Luke seinem Butler zu, der gerade das Haus Nr. 65 verließ, »kommen Sie
her, Mr. Blenkinsop, bitte, Sir. Das hätten Sie sich nicht träumen lassen.«
Mr. Blenkinsop
näherte sich gemessenen Schrittes und neigte würdevoll den Kopf, um sich die
Geschichte vom Geizkragen und seinen Guineen anzuhören. »Entsetzlich,
entsetzlich«, sagte er gewichtig. »Seien Sie so gut, Joseph, fragen Sie Mr.
Rainbird, ob es ihm recht wäre, mir im >Eiligen Lakaien< bei einem Seidel
Bier Gesellschaft zu leisten.«
Kurze Zeit später
saßen Rainbird und Mr. Blenkinsop in besagtem Lokal, dem Pub für die höhere
Dienerschaft, beisammen. Von der gespannten
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