01 - Tage der Sehnsucht
genug zu essen, und in ganz London existiert kein einziger Mann,
der daran interessiert wäre, uns zu besuchen.« Er senkte den schweren Kopf über
seinen Teller und begann zu weinen. »Sicher kommt das alles nur daher, dass du
gesagt hast, ich sei ein Geizhals«, schniefte er.
»Was das betrifft«,
sagte Fiona, hob seinen Kopf und band ihm eine Serviette um den Hals, »so
glaube ich, dass Lord Harrington kein Tratschmaul ist. Es ist bedauerlich, aber
niemand sonst hat es gehört, dass Sie ein Geizkragen sind. Wie schade!«
Vor Erstaunen hörte
Mr. Sinclair auf zu weinen. »Schade?«
»Wenn die
Gesellschaft Sie für einen Geizkragen hielte und mich für Ihre einzige Erbin«,
erklärte Fiona, »und wenn man außerdem glaubte, Sie hätten ein schwaches Herz,
nun, dann würde es Einladungen nur so regnen.«
»Du Dummkopf«,
zischte Mr. Sinclair und setzte sich kerzengerade auf. »Dei n pockennarbiges
Gesicht ist unser ganzes Kapital. Rede nicht so albernes Zeug daher! Lass -« Er
hielt inne und starrte sie an, während die Gedanken in seinem Kopf kreisten.
Erstens hatte er Fiona bisher nicht spazierengeführt. Sie war auf ihren
Ausflügen von Joseph begleitet worden. Zweitens erlaubte einem der Ruf eines
Geizhalses, eine schäbige und zugleich vornehme Armut an den Tag zu legen.
An Ihrem Ohr steckt
ein Stück Hammelfleisch, Papa«, sagte Fiona.
»Laß mich allein«,
antwortete Mr. Sinclair. »Ich muss nachdenken.«
Fiona erhob sich
graziös, ging ruhig hinaus und blieb in der dämmerigen Halle stehen. Sie machte
einen halben Schritt zurück, in Richtung auf das Speisezimmer. Doch plötzlich
änderte sie ihre Absicht. Rainbird betrat die Halle. Fiona lächelte ihn
geistesabwesend an und trippelte dann leichtfüßig die Stiege hinauf, wobei sie
die Röcke ihres alten roten Kleides anhob.
Rainbird betrat das
Esszimmer. »Wünschen Sie noch etwas?« fragte er.
»Nein, nein«,
erwiderte Mr. Sinclair, der im Fleisch herumstocherte. »Bringen Sie mir meinen
Port in, sagen wir, einer halben Stunde in den vorderen Salon.«
»Sehr wohl, Sir«,
entgegnete Rainbird bedrückt. Er entfernte sich würdevoll und ging ins
Souterrain hinunter. »Will seinen Port in einer halben Stunde«, sagte er und
ließ sich auf einen Stuhl am Tisch fallen. »Es ist nur noch eine halbe Karaffe
übrig. Weiß er das? Weiß er, dass wir sie kaum von dem Haushaltsgeld ernähren
können, geschweige denn uns? Mrs. Middleton, er möchte Talgkerzen, Talg!
Bienenwachs sei nicht nötig, sagte er mir gestern. Tja!«
Die Dienstboten
waren zu niedergedrückt, um ihm zu antworten. Lizzie hielt sich abseits von den
anderen und saß auf einem Stuhl am Feuer, das dürftig vor sich hinqualmte. Kurz
bevor Mr. Sinclair eingetroffen war, war es so wundervoll gewesen. Sie hatten
alles geschrubbt und geputzt, bis vor Sauberkeit, aber auch von Hoffnungsfreude
alles nur so gestrahlt hatte. Zwar hatte ihr zwangloser Umgangston aufgehört,
und sie hatten wieder ihre Plätze in der Dienstbotenhierarchie eingenommen, die
so streng und snobistisch war wie die der guten Gesellschaft; aber umso größer
war ihre Erwartung und Aufregung gewesen. Sie hatten von dem Essen geträumt,
das sie bekommen würden, und den Trinkgeldern. Rainbird war sogar zu den
Ställen am Ende der Straße gegangen, um geeignete Pferdeknechte und einen
Kutscher auszusuchen, falls der neue Mieter nicht seine eigenen mitbrachte.
Rainbird erinnerte
sich auch daran, welche Aufregung bei der Ankunft der Sinclairs geherrscht
hatte. Den ganzen i. April, den Tag, an dem Mr. Sinclair laut Palmer kommen
wollte, wartete Rainbird damals draußen auf der Treppe und brüstete sich unter
den aufmerksamen Augen der Dienstboten aus der Nachbarschaft.
Aber die Dämmerung
sank herab, und immer noch war von den Sinclairs nichts zu sehen. Die freudige
Erregung unter dem Personal ließ merklich nach. Rainbird aß sein Abendbrot und
ging dann wieder hinaus, um noch einmal Ausschau zu halten.
Um die Ecke des Piccadilly
bog eine staubige Droschke, die von einem klapprigen Gaul gezogen wurde und vor
dem Haus zum Stehen kam. Rainbird trat vor, um dem Fahrer zu sagen, er solle
wegfahren. Gott behüte, dass Mr. Sinclair einträfe und solch ein schandbares
Fahrzeug vor seinem Wohnhaus sähe! »Fahr weiter«, rief er dem Kutscher auf dem
Bock zu.
»Nein«, widersprach
dieser lakonisch. »Das ist die Adresse, wohin der Kerl will, den ich
mitbringe.«
Ein nervöses
Kribbeln begann sich in der Magengrube des Butlers
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