01 - Tage der Sehnsucht
können. Er machte eine steife Verbeugung und wandte sich, noch ehe
sie die Tür der Bibliothek erreicht hatte, mit Absicht von ihr ab.
Fiona rauschte auf
den Hanover Square hinaus, gefolgt von Joseph, der den Korb trug. »Den habe ich
an der Angel«, frohlockte sie.
»Entschuldigung,
gnädiges Fräulein?« fragte Joseph.
»Nichts, Joseph«,
erwiderte Fiona. »Ich habe nur zu mir selbst gesprochen.«
Als sie sich dem
Haus Nummer 67 näherten, vergaß Joseph beinahe seine Schmerzen in den Füßen. Im
Geist berichtete er bereits den anderen Dienern von dem Überfall.
Das Personal war
gerade mit dem Abendessen fertig, als die beiden die Gesindestube betraten.
Alle standen auf.
»Joseph hat einen
Korb mit Sandwiches für Sie dabei«, sagte Fiona. Sie legte ihr Handtäschchen
auf den Tisch, zog die Kordel auf und schüttete das Geld heraus. »Also jetzt
will ich doch mal sehen, wie viel das eigentlich ist«, sagte sie, während die
Diener Mund und Augen aufrissen und nach Luft schnappten. »Nun, Mr. Rainbird,
hier sind zweihundert Pfund. Davon können Sie Essen, Kohle und neue Livreen
kaufen. Den Rest bringe ich meinem Vater.« Sie schenkte den Dienern ein
strahlendes Lächeln und entschwand.
Rainbird erwachte
als erster aus der allgemeinen Betäubung. Er rannte zur Tür, riss sie auf und
stolperte hinter Fiona die Stufen hinauf. »Danke, gnädiges Fräulein«, stammelte
er. »0 danke!«
»Tun Sie nicht so
überrascht, Mr. Rainbird«, tadelte Fiona ihn. »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich
würde das Geld für Sie auftreiben.« Sie öffnete die Tür zur Halle und stieg
nach oben.
Rainbird ging
langsam die Treppe hinunter. Er bekam kaum etwas von Josephs Erzählung mit, der
sich inzwischen ausführlich über den Überfall verbreitete. je länger er sprach,
desto größer und stärker wurde Seamus, bis er volle zwei Meter maß.
»Nun, Lizzie«,
sagte Rainbird, als Joseph schließlich verstummte, weil er sich heiser geredet
hatte, »es geschehen anscheinend doch noch Zeichen und Wunder. jetzt langt es
auch für ein neues Kleid für dich.«
»0 danke«, rief
Lizzie, sah aber dabei Joseph an und nicht Rainbird.
Alice hob ihre
wohlgerundeten Arme, um ihre weichen Locken unter der Spitzenhaube
zurechtzurücken. »Es kommt mir so vor«, sagte sie langsam, »als ob Miß Fiona
eine höchst ungewöhnliche Dame ist.«
»Nach dem heutigen
Tag bin ich bereit, alles für sie zu tun«, meinte die dunkelhaarige, ernsthafte
Jenny leidenschaftlich. »Alles.«
»Oh, die Gerichte,
die ich für sie zubereiten werde«, sang MacGregor, »die Soßen, die Süßspeisen,
die Kuchen!«
Mrs. Middleton
öffnete, den Korb und begann, die Sandwiches und Kuchen sorgfältig auf die
Teller zu verteilen. »Gleich als ich sie sah, wußte ich natürlich, dass sie
eine wirkliche Dame ist«, sagte sie.
Dave streckte seine
kleine Hand aus und griff nach einem rosa Fondant, das mit einem glasierten
Engel verziert war. »Das sind Leckerbissen«, rief er. »Sieht direkt zu schön
aus, um gegessen zu werden!«
»Das genügt«, sagte
Rainbird und schlug ihm auf die Hand. »Du wartest, bis sich deine Chefs bedient
haben, junger Mann.«
Sie nahmen am Tisch
Platz. Lizzie saß neben Joseph. Sie hoffte, die anderen würden ihr wenigstens
eines der Fondants mit einem Engel übriglassen.
Oben war Mr. Sinclair ganz starr vor
Staunen und erging sich in lauten Ausrufen über das Geld und den Bericht, den
Fiona von dem Spiel gab. »Du hast es ja faustdick hinter den Ohren«, meinte er
schließlich, schüttelte sich vor Lachen und schlug sich auf die Knie. »Großer
Gott, was gäbe ich nicht dafür, Lady Dishers Gesicht zu sehen! Aber eines
darfst du mir glauben, sie war es, die hinter dem Überfall steckte, weil sie
das Geld wieder an sich bringen wollte. Du kannst dort nie mehr hin. Hörst du?«
»Ja, ich höre«,
erwiderte Fiona sanft. »Ich bin sehr müde. Bitte verzeihen Sie mir! Ich muss
ins Bett.«
Ich habe sie ja gar
nicht gefragt, wie es zu dieser Glückssträhne gekommen ist, fiel Mr. Sinclair
ein, als sie gegangen war. Fiona war entweder ein vom Glück begünstigter
Unschuldsengel oder tatsächlich eine ganz gerissene junge Frau.
Sechstes Kapitel
Sehr zu seiner Überraschung erhielt Mr.
Sinclair am folgenden Nachmittag einen Besuch des Earl of Harrington. Fiona war
zu »einer kleinen Teegesellschaft« bei Mrs. Carrington entschwunden.
Tatsächlich hatte letztere sie eingeladen, um sie in einen neuen Spielsalon für
Damen in St. James zu locken.
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