01-Unsterblich wie die Nacht-redigiert-25.10.12
sarkastische Antwort parat gehabt, vergaß sie jedoch, als sie sah, wie man den Raum hergerichtet hatte.
Zehn Stühle standen in einem weiten Kreis in der Mitte. Hinter jedem Stuhl brannte eine große Kerze. Abgesehen davon war der Saal vollkommen leer: Bilder und Wandbehänge waren abgenommen, sämtliche Möbel entfernt worden. Nur die dicken Samtvorhänge hatte man an den hohen Fenstern gelassen; diese waren nun zugezogen, sodass der Raum außerhalb des Lichtkreises vollkommen im Dunkeln lag.
Der gleiche Vampir, der aus dem schwarzen Büchlein vorgelesen hatte, wies ihr nun einen Stuhl zwischen zwei Vampiren an, die sie nicht kannte. Nervös nahm Angelica Platz.
Alexander saß ihr gegenüber, flankiert von Joanna, Kiril, James und Margaret.
Als alle zehn Plätze besetzt waren, betraten vier weitere Vampire den Raum, und die Tür wurde mit einem unheilvollen Donnern geschlossen, das in Angelicas Ohren wie eine Totenglocke klang.
Angelica.
Das war Alexanders Stimme! Sie musste wohl einen Moment nicht aufgepasst und ihre Blockade vernachlässigt haben - wie immer, wenn sie extrem nervös wurde. Aber anstatt wütend zu werden, war sie nur dankbar. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen? Alexanders Stimme hatte ihr so gefehlt.
Ja? , antwortete sie daher rasch.
Egal was geschieht, du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt. Vertraust du mir?
Alexanders gedankliche Stimme klang drängend, als ob ihnen nicht mehr viel Zeit bliebe. Was immer ›es‹ war, würde jeden Moment beginnen.
Ich vertraue dir.
Sie wusste, dass Alexander seine Blockade nun wieder errichtet hatte, und tat es ihm gleich. Schon begannen zwei Vampirinnen mit melodischen Stimmen zu singen. Auch dies war ein Lied ohne Worte, dafür aber umso ausdrucksvoller.
Der kleine Mann, der aus dem schwarzen Büchlein vorgelesen hatte, trat in die Mitte des Kreises, in der Hand einen reich verzierten Kelch. Damit trat er zunächst auf James zu und bot ihm das Gefäß zum Trinken. James nahm einen Schluck. Dann ging der Vampir zwei Stühle weiter nach links und hielt dem dort sitzenden Vampir ebenfalls den Kelch an die Lippen.
Angelica brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, was da getrunken wurde. Nein, nein! Sie konnte kein Blut trinken, auf gar keinen Fall! Sie würde alles wieder ausspucken, und dann wäre ihre Tarnung aufgeflogen. Man würde sie umbringen, und nicht einmal Alexander könnte etwas dagegen tun.
Den Tränen nahe verfolgte sie, wie der kleine Mann nacheinander von einem zum anderen ging. Als der Vampir zu ihrer Linken trank, hielt Angelica den Atem an. Gleich würde sie drankommen. Was sollte sie tun, wenn man ihr den Kelch an die Lippen hielt? Würde der Geruch schon ausreichen, dass sie sich übergeben musste?
Sie machte den Mund auf, um zu protestieren, als der kleine Mann auch schon an ihr vorbei war und den Kelch an die Lippen des Mannes zu ihrer Rechten hielt. Erst jetzt wurde Angelica klar, dass er die ganze Zeit immer einen Platz übersprungen hatte: Er hatte den Kelch nur den Männern angeboten.
Wie sexistisch dieses Ritual auch immer sein mochte, Angelica war zutiefst dankbar, ja, sie war so dankbar wie noch nie in ihrem Leben … abgesehen von dem Moment, als Alexander ihr das schönste Geschenk ihres Lebens gemacht hatte.
Sie warf einen Blick zu ihm. Wie konnte sie ihn, selbst jetzt, in diesem Moment, nur so begehren? Der Vampir mit dem Kelch verstellte ihr kurz die Sicht, dann sah sie, wie Alexander trank. Er schloss kurz die Augen und schlug sie dann wieder auf.
Angelica biss sich erschreckt in die Lippe: Seine sonst grauen Augen leuchteten scharlachrot.
Wahrscheinlich sahen auch die anderen männlichen Vampire so aus, aber Angelica verzichtete darauf, einen Blick in die Runde zu werfen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, und der Anblick von einem halben Dutzend rotäugiger Vampire wäre dabei vermutlich nicht gerade förderlich.
Als auch der letzte männliche Vampir aus dem Kelch getrunken hatte, veränderte sich der Gesang, wurde langsamer, träger, weniger traurig, dafür aber sinnlicher. Angelica fragte sich, was jetzt wohl kam. Sie hoffte inständig, dass dies das Ende der Zeremonie war, denn sehr viel mehr konnten ihre angegriffenen Nerven nicht mehr ertragen.
In diesem Moment fiel Angelica auf, dass Joanna sie durchdringend anschaute, als wollte sie ihr etwas mitteilen. Angelica hob unmerklich die Brauen, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie
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