01-Unsterblich wie die Nacht-redigiert-25.10.12
aufgefallen zu sein.
Die spitzen Tannennadeln machten den Vampiren natürlich nichts aus, aber ihre weichen Fußsohlen waren schon ganz zerkratzt und zerstochen.
Angelica richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den kleinen Mann, der nun ein schwarzes Büchlein hochhielt. Die Zuschauer schienen bei dessen Anblick geradezu den Atem anzuhalten.
Was mochte nur darin stehen, das die Anwesenden so in ihren Bann schlug?, fragte sich Angelica.
Aber sie musste nicht lange auf die Lösung des Rätsels warten, denn nun begann der Mann zu lesen.
»Ich wurde 1384 in Polen geboren und auf den Namen Jadwiga getauft, den Namen der Königin. 1422 nahm ich den Namen Eleanor Cobham an und wurde zunächst die Mätresse, später dann die zweite Frau des Herzogs von Gloucester, Ratsregent und Onkel von Heinrich VI.«
Angelica brauchte einen Moment, um sich darüber klar zu werden, dass sie hier die Lebensgeschichte der Verstorbenen hörte. 1384! Das lag so weit zurück, dass es ihr geradezu märchenhaft vorkam. Wie hatte diese Frau so lange leben können und als wer?
»1441 bezichtigte man mich der Hexerei und warf mich in den Kerker, woraufhin ich nach Frankreich ging und den Namen Isabelle Periene annahm. Ich heiratete einen Bauern namens Jean Lordeaux und lebte dreiunddreißig Jahre lang glücklich mit ihm.«
Alexander war über fünfhundert Jahre alt, überlegte Angelica. Was er wohl alles gemacht hatte? Wo war er geboren worden, und wie lautete sein richtiger Name? Hatte er den Namen Alexander erst kürzlich angenommen?
Die Fragen jagten einander, und Angelica wurde ganz schwindlig. Sie presste die Finger an ihre Schläfen, um ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Immerhin war dies der leichte Teil der Veranstaltung. Hier musste sie nichts weiter tun, als still zu sein und zuzuhören.
»1735 ging ich wieder nach Frankreich und nahm den Namen Jeanne-Antoinette Poisson an. 1741 heiratete ich Charles-Guilaume Le Normant d’Ètiolles, und vier Jahre später wurde ich die Mätresse von König Louis XV. von Frankreich. Ich blieb bis 1764 an seiner Seite, dann siedelte ich nach Deutschland über.«
Angelicas Augen wurden groß: Sie wusste, wer Jeanne-Antoinette Poisson gewesen war - besser bekannt unter dem Namen »Madame Pompadour«. Man behauptete, sie hätte den Siebenjährigen Krieg angezettelt!
Angelica zählte langsam bis zehn, um ihren rasenden Puls zu beruhigen, bevor jemand Verdacht schöpfen konnte. Ob man ihr ihren inneren Aufruhr ansah? Ob er die Farbe ihrer Aura veränderte, wie manche östlichen Mediziner behaupteten?
Ihre Augen suchten nach Alexander und fanden ihn im Zentrum des Halbkreises. Er lauschte mit unbewegter Miene dem Bericht von Jadwigas Leben. Ob er wohl an ihrer Aura sehen konnte, wie es um sie stand?
Nein, das wollte sie gar nicht wissen. Selbst wenn er es konnte, sie wollte es nicht wissen.
Ihre Aufmerksamkeit wurde durch eine Bewegung wieder auf Jadwigas Leiche gelenkt. Der kleine Mann, der aus dem schwarzen Büchlein vorgelesen hatte, war wieder in den Halbkreis zurückgetreten. Nun traten zwei männliche Vampire vor, jeder mit einer Schüssel in der Hand, die eine Flüssigkeit enthielten.
Diese gossen sie in einem feinen Rinnsal über die Leiche, der eine am Kopf beginnend, der andere bei den Füßen.
Danach traten die Männer auf den Kopf der Leiche zu, und Angelica hielt unwillkürlich den Atem an. Sie wusste, was jetzt kommen würde, und musste all ihre Kraft aufbieten, um nicht die Flucht zu ergreifen.
Die beiden Vampire zückten glänzende Dolche. Sie beugten sich über Jadwigas Kopf.
Nicht die Augen zumachen, nicht die Augen zumachen, schärfte sich Angelica verzweifelt ein. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht des einen. Er sah aus wie Anfang dreißig, konnte aber ebenso gut zweihundert Jahre alt sein. Zweihundert Jahre. Was würde sie mit so viel Zeit anfangen?
Als sich der Mann wieder aufrichtete, huschten Angelicas Augen ganz unfreiwillig zu seinen Händen. Er hielt den nun blutbefleckten Dolch in der Linken. In der Rechten war Jadwigas Gebiss.
Angelica wurde übel. Angeekelt verfolgte sie, wie der Mann zur Seite trat und die Zähne in einem Samtbeutel verschwinden ließ.
Warum machten sie so etwas? Sie wünschte, sie wüsste es. Vor der Zeremonie war nicht genug Zeit zum Fragen gewesen. Aber vielleicht wäre ihr nicht so schlecht, wenn sie nur den Grund für diese barbarische Gepflogenheit wüsste.
Abermals suchten ihre Augen unwillkürlich nach Alexander. Er
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