01 - Winnetou I
tropfen lassen!“
Also eine Blutsbruderschaft, eine richtige, wirkliche Blutsbruderschaft, von der ich so oft gelesen hatte! Sie kommt bei vielen wilden oder halbwilden Völkerschaften vor und wird dadurch geschlossen, daß die beiden Betreffenden entweder Blut von sich mischen und dann trinken oder daß das Blut des einen dem andern und so auch umgekehrt getrunken wird. Die Folge davon ist, daß diese beiden dann fester, inniger und uneigennütziger zusammenhalten, als wenn sie von Geburt Brüder wären.
Hier war es so, daß ich Winnetous Blut und er das meinige trinken sollte. Wir stellten uns zu beiden Seiten des Sarges auf, und Intschu tschuna entblößte den Vorderarm seines Sohnes, um ihn mit dem Messer zu ritzen. Es quollen aus dem kleinen, unbedeutenden Schnitt einige Blutstropfen, welche der Häuptling in die eine Wasserschale fallen ließ. Dann nahm er mit mir dieselbe Prozedur vor, bei welcher einige Tropfen in die andere Schale fielen. Winnetou bekam die Schale mit meinem Blut und ich die mit dem seinigen in die Hand; dann sagte Intschu tschuna:
„Die Seele lebt im Blut. Die Seelen dieser beiden jungen Krieger mögen ineinander übergehen, daß sie eine einzige Seele bilden. Was Old Shatterhand dann denkt, das sei auch Winnetous Gedanke, und was Winnetou will, das sei auch der Wille Old Shatterhands. Trinkt!“
Ich leerte meine Schale und Winnetou die seinige. Es war Rio-Pecos-Wasser mit einigen Blutstropfen, die man nicht schmeckte. Darauf reichte der Häuptling mir die Hand und sagte:
„Du bist nun grad wie Winnetou, der Sohn meines Leibes und ein Krieger unseres Volkes. Der Ruf deiner Taten wird schnell und überall bekannt werden, und kein anderer Krieger wird dich übertreffen. Du trittst als Häuptling der Apachen ein, und alle Stämme unseres Volkes werden dich als solchen ehren!“
Das war ein schnelles Avancement! Vor kurzem noch Hauslehrer in St. Louis, war ich dann Surveyor geworden, um jetzt als Häuptling unter ‚Wilden’ aufgenommen zu werden! Aber ich gestehe, daß diese Wilden mir weit besser gefielen als die Weißen, mit denen ich es in der letzten Zeit zu tun gehabt hatte.
Um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich hier eine Bemerkung machen. Es kommt auch bei uns vor, daß von abenteuerlich gestimmten Leuten Blutsbruderschaften in ähnlicher Weise oder wohl gar mit absonderlichen, auf Aberglauben beruhenden Zeremonien geschlossen werden. Solchen Bruderschaften schreibt man ganz außerordentliche, geheimnisvolle Wirkungen zu, unter anderm auch die, daß beide Brüder in demselben Augenblick sterben müssen. Wenn z.B. der eine, schwächere, kränkliche, nach Italien reist und dort an der Cholera stirbt, so wird der andere, starke, gesunde, der in Deutschland zurückgeblieben ist, in ganz derselben Sekunde tot umfallen. Das ist natürlich Unsinn. Von einem solchen Aberglauben war bei dem, was zwischen Winnetou und mir geschah, ganz und gar keine Rede. Es wurde dabei dem Genuß des Blutes weder von mir, noch von den Apachen irgendwelche Wirkung zugeschrieben, sondern er hatte nur eine rein symbolische, also bildliche Bedeutung.
Und doch, höchst sonderbar, trafen später stets die Worte Intschu tschunas zu, daß wir eine Seele mit zwei Körpern sein würden. Wir verstanden uns, ohne uns unsere Gefühle, Gedanken und Entschlüsse mitteilen zu müssen. Wir brauchten uns nur anzusehen, um genau zu wissen, was wir gegenseitig wollten; ja, dies war gar nicht einmal notwendig, sondern wir handelten selbst dann, wenn wir voneinander fern waren, mit einer wirklich erstaunlichen Übereinstimmung, und es hat nie, niemals irgendeine Differenz zwischen uns gegeben. Das war aber nicht etwa die Wirkung des genossenen Blutes, sondern eine sehr natürliche Folge unserer innigen, gegenseitigen Zuneigung und des liebevollen Eingehens und Einlebens des einen in die Ansichten und individuellen Eigentümlichkeiten des andern.
Als Intschu tschuna seine letzten Worte sprach, hatten sich alle Apachen, auch die Kinder, erhoben, um ein lautes, bekräftigendes Howgh auszurufen. Dann fügte der Häuptling hinzu:
„Jetzt ist der neue, der lebende Klekih-petra bei uns aufgenommen, und wir können den toten seinem Grab übergeben. Meine Brüder mögen dies nun tun!“
Er meinte diejenigen, welche mit an dem Grabmal gebaut hatten. Ich bat um Aufschub und winkte Hawkens, Stone und Parker herbei. Als sie bei mir standen, sprach ich über dem Sarg einige kurze Worte und schloß ein Gebet daran.
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