010 - Skandal in Waverly Hall
leiblicher Vater ist, ändert nichts - zumindest nicht in meinen Augen. Außerdem geht es dich nichts an, was Dominick und ich im stillen Kämmerlein tun."
Er sah sie schweigend an, und Anne bemerkte die widerstrebenden Gefühle, die sich in seinem Gesicht und seinen Augen spiegelten. Sein Ton wurde weicher.
„Entschuldige bitte. Ich möchte dir nur helfen, Anne. Du weißt inzwischen ja, daß ich
..."
„Nein!" Sie hob beide Hände in die Höhe und lächelte gequält. Ihr wurde immer elender. „Ich bin mit Dominick verheiratet. Wir führen zwar keine gute Ehe, aber eine Scheidung kommt für uns nicht in Frage. Ich bleibe seine Frau, bis einer von uns beiden stirbt." Kaum hatte sie es ausgesprochen, bereute sie ihre Wortwahl schon und wurde blaß.
Patrick ließ sie nicht aus den Augen. „Bis einer von euch beiden stirbt", wiederholte er leise.
Plötzlich fand Anne die Droschke viel zu klein. Die Luft war stickig und entsetzlich warm. Trotzdem brachte sie nicht die Kraft auf, hinüberzugreifen und ein Fenster zu öffnen.
„Versucht Dominick immer noch, dir etwas anzutun?" fragte Patrick.
„Nein!" Sie schluckte. „Ich weiß es nicht", verbesserte sie sich und schwieg einen Moment. „Meine Güte, ich weiß überhaupt nicht, was ich denken soll."
„Sag mir, was passiert ist, Anne", drängte Patrick sie.
Sie erzählte ihm von dem zerrissenen Nachthemd, ging aber nicht näher auf die Bedeutung dieses Kleidungsstücks und die vergangene Nacht ein.
„Du darfst nicht nach Rutherford House zurückkehren", erklärte Patrick bestimmt.
„Mir bleibt nichts anderes übrig."
„Hast du den Verstand verloren?"
„Nein. Ich habe Dominick um einen getrennten Wohnsitz gebeten. Doch er weigert sich, mir eine eigene Wohnung einzurichten. Er besteht darauf, daß wir weiterhin zusammenleben." Sie wandte sich ab, denn Patrick sah sie zu eindringlich an.
„Und worauf besteht er sonst noch?" fragte er barsch.
Anne zuckte zusammen und bemerkte seinen wütenden Blick. Natürlich brauchte sie die Frage nicht zu beantworten. Sie versuchte es trotzdem. „Ich tue mein Bestes, um mit dieser außerordentlich schwierigen Situation fertig zu werden, Patrick", sagte sie leise. „Aber ich bin nur eine Frau und bestimmt nicht vollkommen. Was erwartest du von mir?"
„Ich möchte nicht, daß Dominick dir erneut weh tut. Er ist nicht gut genug für dich, Anne. Das war er noch nie. Und nachdem wir jetzt wissen, daß er nichts als ein elender Bastard ist..."
„Ich bin zu dir gekommen, weil ich deine Hilfe brauche, Patrick", unterbrach sie ihn schärfer, als sie beabsichtigt
hatte. „Nicht weil ich Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen hören möchte."
Er ergriff erneut ihre Hand. Anne wollte ihre Finger zurückziehen. Doch ein Blick in sein versteinertes Gesicht hielt sie davon ab. Sie hatte Angst, war bestürzt und unendlich traurig. Was war passiert? Vier schmerzliche Jahre war Patrick ihr allerliebster Freund gewesen und ihr einziger Vertrauter. Plötzlich hatte sich alles verändert, und sie hütete sich, zu viel zu sagen. Wie war es möglich, daß sie Patricks Feindseligkeit gegenüber Dominick früher nie bemerkt hatte? „Du bist mein bester Freund, Patrick", begann sie erneut. „Ich brauche dich jetzt. Ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden könnte."
„Und ich bin immer für dich da, Anne", antwortete er ernst. „Du mußt Rutherford House verlassen, ganz gleich, was Dominick davon hält. Schließlich bist du ihm nichts schuldig. Ich werde dir helfen, von ihm wegzukommen."
Oberflächlich betrachtet, hatte Patrick recht, das war Anne klar. Sie schuldete Dominick sehr wenig nach allem, was er ihr angetan hatte. „Ich kann nicht einfach davonlaufen wie eine einfache Frau aus dem Dorf", sagte Anne leise. „Das bringe ich nicht fertig."
Patrick schwieg eine ganze Weile. „Was wirst du tun, wenn Dominick seinen Namen, seine Titel und seine Güter verliert?" fragte er endlich.
„Was meinst du damit? Das wird nichts ändern, zumindest für mich nicht. Bevor Dominick mir nicht erlaubt, von ihm getrennt zu leben, werde ich bei ihm bleiben, wohin er auch geht."
„Meine Güte, der Mann ist ein Betrüger! Er ist ein verdammter Bastard!" fuhr Patrick auf. „Vielleicht der Sproß eines Stallknechts, Anne. Und du willst trotzdem bei ihm bleiben?"
Anne riß ihre Hand fort. „Mir bleibt keine andere Wahl." Sie bebte innerlich vor Zorn. „Ich werde dir etwas sagen, Patrick. Du bist ganz schön engstirnig. Mich
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