010 - Skandal in Waverly Hall
Sprechen strengte ihn furchtbar an. Seine letzten Worte waren kaum noch zu hören.
„Sprich jetzt nicht, Dominick. Spar deine Kräfte." Anne legte Dominicks Hand auf ihre Jacke und drückte seine Finger fest darauf. Ihr wurde ganz elend bei dem Gedanken, daß er seinen eigenen Blutstrom aufhalten mußte. „Ich habe keine Ahnung, ob Patrick einen Arzt holt oder nicht."
Dominick antwortete nicht und wurde immer blasser. Er schwitzte entsetzlich und schloß die Augen. Aber er drückte die Jacke weiter auf die Wunde.
Anne stand auf und zog ihren Unterrock aus. Es war nicht einfach, den Stoff in Streifen zu reißen. Doch es gelang ihr mit beinahe übermenschlicher Anstrengung.
Sie sah Dominick wieder an und merkte, daß er sie beobachtete.
„Keine Sorge, ich werde nicht sterben." Seine Stimme klang ein bißchen kräftiger.
Anne lächelte gequält.
„Hilf mir, mich aufzusetzen."
Anne sank auf die Knie. Dominick verzog keine Miene, als sie ihm in die Höhe half. Er war eindeutig entschlossen, keinen Laut von sich zu geben. Sie nahm die Reitjacke fort, und die Wunde begann sofort wieder zu bluten. So schnell sie konnte, fertigte sie nach seinen Anweisungen einen Verband an. Anschließend legte sie Dominick behutsam auf den Rücken zurück und schob ihm die Jacke als Kissen unter den Kopf.
Dominick hielt die Augen geschlossen und war fahler als zuvor. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.
Liebevoll streichelte Anne seine Stirn. Vor Hilflosigkeit stiegen ihr Tränen in die Augen. Wo war Patrick? Inständig hoffte sie, daß er Hilfe holen würde.
Die Schatten wurden immer länger. Anne versuchte herauszufinden, wie lange sie schon bei Dominick wartete. Doch sie hatte keine Ahnung, ob nur eine Viertelstunde oder eine ganze Stunde vergangen war. In ihrer Angst, daß Dominick sterben könnte, wurde jede Minute zu einer Ewigkeit.
Er war inzwischen bewußtlos geworden, und sein Verband hatte sieb leuchtend rot gefärbt.
Plötzlich hörte Anne einen Reiter - nein, mehrere Reiter -und sprang auf die Füße.
Patricks Brauner galoppierte auf sie zu, gefolgt von zwei anderen Pferden. Weitere Reiter waren hinter ihm.
„Endlich!" rief sie und erkannte Bennet und Verig.
„Die Stallknechte folgen uns mit einer Trage", verkündete der Butler und stieg ab.
„Außerdem habe ich jemanden zum Arzt geschickt."
Annes Knie wurden weich vor Erleichterung. Sie sah, daß Patrick neben Dominick niedergesunken war. Er weinte.
„Bitte, stirb nicht", flüsterte er. „Ich habe dich nicht töten wollen, Dominick ... Ich liebe dich mehr als meine eigenen Brüder. Bitte, stirb jetzt nicht."
Anne konnte ihre Angst nicht mehr beherrschen. Der Arzt schickte sie kurzerhand aus Dominicks Zimmer. Sie ging auf dem Flur auf und ab und trocknete ihre Augen mit einem zerknüllten Taschentuch. Stumm betete sie für die Gesundung ihres Mannes und bereute jede Minute des Streits, der Mißverständnisse und der Trennung.
Patrick saß mit gesenktem Kopf auf einem kleinen Sofa. Trotz allem, was er getan hatte, tat der Vetter ihr leid. Er spürte ihren Blick und sah zum erstenmal seit einer halben Stunde auf. „Ich muß verrückt geworden sein."
„Das scheint mir auch."
„Ich hätte dir niemals etwas angetan, Anne. Ich wollte dich von Dominick trennen und dich unbedingt heiraten."
Anne erinnerte ihn vorsichtshalber nicht daran, daß er sie mit seinem Verhalten schwer verletzen oder sogar hätte töten können. Sie bezweifelte nicht, daß er das Feuer in ihrem Schlafzimmer gelegt und ihrem Pferd die Spritze gegeben hatte, auch wenn er es heftig bestritt. „Verabscheust du Dominick derart, Patrick? Ich dachte, ihr beide wäret seit frühester Kindheit Freunde."
„Ich verabscheue Dominick nicht", antwortete Patrick, und eine Träne rann seine Wange hinab. „Mein Leben lang habe ich in seinem Schatten gestanden. Du kannst dir un-möglich vorstellen, was das heißt. Als ich euch beide gemeinsam in Schottland sah, rastete etwas bei mir aus. Das ist mir jetzt klar. Trotzdem könnte ich es nicht ertragen, wenn Dominick stürbe. Ich würde mich umbringen."
„Das wirst du nicht tun", erklärte Anne bestimmt. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schwach Patrick war. „Außerdem wird Dominick nicht sterben."
„Weshalb braucht der Arzt dann so lange?" fragte er.
Das hatte Anne auch gerade überlegt.
Kurz darauf öffnete sich die Schlafzimmertür, und Bennet erschien. Er sah erschöpft aus. „Doktor Cobb sagt, daß Sie jetzt hereinkommen können,
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