010 - Skandal in Waverly Hall
Mylady. Seine Lordschaft ist bei Bewußtsein."
Annes Herz tat einen freudigen Sprung, und sie eilte an Bennet vorüber. Sie sah weder Verig, der sich an dem Bett zu schaffen machte, noch den Arzt, der sein Verbandszeug und seine Instrumente zusammenpackte. Sie hatte nur Augen für Dominick. Er saß mit nacktem Oberkörper da und hatte die Decke bis zur Taille hinaufgezogen. Ein schneeweißer Verband bedeckte seine Wunde. Sein Gesicht war längst nicht mehr so aschfahl wie vorher.
Anne lief zu ihm. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. „Dominick!"
Er sah sie eindringlich an. „Geht es dir gut?"
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Mir?" Sie lachte unsicher und setzte sich auf die Bettkante. „Du bist angeschossen worden, Liebling, nicht ich."
Seine Augen wurden dunkel. „Dieses Kosewort höre ich gern, Anne."
Sie feuchtete ihre Lippen an. „Dominick, wenn du gestorben wärst..." Die Gefühle überwältigten sie, und sie konnte nicht weitersprechen.
Dominick legte seine kräftige Hand an ihre Wange. „Soll das heißen, daß du mich liebst, Anne?"
Sie nickte und bekam immer noch keinen Ton heraus.
Seine Augen wurden ebenfalls verdächtig feucht. „Cald-well berichtete mir gestern abend, daß Patrick und Belle ein Verhältnis hätten. Da wurde mir klar, daß er es war, der dich ständig verfolgte. Meine Sorge um dich führte mich hierher, Anne. Nie im Leben hatte ich solche Angst wie in dem Moment, als ich erfuhr, daß Patrick auf dem Weg nach Waverly Hall wäre." Er faßte ihre beiden Hände. „Ich begreife nicht, was in ihn gefahren ist", sagte er leise, und seine Stimme versagte.
Annes Herz zog sich schmerzlich zusammen. Plötzlich fiel ihr ein, wie Dominick und Patrick als ungestüme junge Männer zusammen ausgeritten waren. Die beide hatten sehr gut ausgesehen und waren äußerst forsch gewesen. Alle jungen Mädchen hatten für sie geschwärmt. Auch an ihre gemeinsamen Streiche in Cambridge erinnerte sie sich, von denen Patrick erzählt hatte. Damals waren Dominick und er unzertrennlich gewesen.
„Ich begreife es ebenfalls nicht", gab sie zu.
Sie wechselten einen langen Blick. Dominick tat ihr furchtbar leid, denn er litt unsäglich unter dem Treubruch, den Patrick begangen hatte.
Endlich stand Anne auf und zog den Arzt und Verig aus dem Raum. „Wie geht es meinem Mann wirklich?" fragte sie Dr. Cobb leise.
„Seien Sie unbesorgt, Lady Anne", antwortete er. „Lord Waverly ist jung und kräftig.
In ein oder zwei Tagen kann er wieder aufstehen. Bis dahin muß er allerdings strenge Bettruhe einhalten. Ich werde morgen wiederkommen und mich von seinem Zustand überzeugen."
„Danke", sagte Anne und drückte ihm die Hand. Dann kehrte sie zu Dominick zurück.
„Im Grunde seines Herzens ist Patrick nicht schlecht. Er muß völlig die Kontrolle über sich verloren haben", erklärte Dominick. Es klang beinahe verärgert.
Bevor Anne ihm zustimmen konnte, sagte Patrick von der offenen Tür: „Ich wollte Anne bestimmt nichts tun, Dominick. Das versichere ich dir. Sie sollte glauben, daß du all die schlimmen Dinge getan hättest, und dich vor Angst verlassen."
Dominick sah den Freund seiner Kindertage mit gequälter Miene an. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr, Patrick. Ich verzeihe dir."
Patrick sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Das Leben ist so ungerecht", flüsterte er völlig kraftlos. „Trotzdem tut es mir sehr leid, Dominick, unendlich leid."
„Was hast du jetzt vor?" fragte Dominick ernst.
Entsetzt sah Anne von ihm zu ihrem Vetter und begriff, was diese Frage zu bedeuten hatte. „Weißt du, wer Matthew Fairhaven getötet hat, Patrick?" fragte sie.
Er zögerte einen Moment.
Dominick beobachtete ihn gespannt. „Nein, nicht du! Sag, daß das nicht wahr ist!"
Patrick errötete. „Es war ein Unfall. Ich habe Fairhaven nicht absichtlich getötet. Ich wollte wissen, was in dem Tagebuch stand. Er weigerte sich, es mir zu sagen. Da wurde ich wütend, und wir begannen zu kämpfen. Anschließend hatte ich die einmalige Gelegenheit, alle Schuld auf dich zu schieben, Dominick. Ich war derjenige, der die Polizei verständigte."
Anne wurde es ganz elend. Sie kehrte zu Dominick zurück und ergriff seine Hand. Er drückte sie fest. Eisiges Schweigen senkte sich auf die drei Menschen.
Endlich sprach Dominick wieder. Seine Stimme klang ruhig und beherrscht. Doch seine Blick war tief bekümmert. „Du mußt zur Polizei gehen, Patrick, und aussagen,
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