010 - Skandal in Waverly Hall
so etwas nicht!"
Der Herzog lächelte nachsichtig. „Ich bin vierundsiebzig Jahre alt, Anne. Meine Kräfte haben in den letzten Monaten stark nachgelassen. Ich fühle mich nicht gut.
Der Tag ist nicht mehr fern, an dem ich meinem Schöpfer gegenübertreten muß.
Wenn ich diese Tatsache hinnehme, kannst du es ebenfalls, nicht wahr? Aber abgesehen davon: Was hat Dominick zu dir gesagt?"
Anne zögerte einen Moment. „Er hat die Absicht, hierzubleiben, obwohl ich ihm klargemacht habe, daß er nicht willkommen ist."
„Ich wundere mich über dich, Anne", schalt der Herzog sie stirnrunzelnd. „Waverly Hall ist Dominicks Elternhaus."
Sie preßte die Hände zusammen. „Ich kann Dominick keine weitere Chance geben.
Er hat sie nicht verdient."
„Vielleicht nicht. Aber du bist die großzügigste Frau, die ich kenne. Gib ihm eine zweite Chance", bat Rutherford leise. Trotzdem klang es wie ein Befehl. „Was hast du zu verlieren?"
„Mein Herz", antwortete Anne schlicht.
„Und was kannst du gewinnen?" fragte der Herzog.
Anne holte tief Luft. Sie begriff genau, was Rutherford meinte. Wäre es möglich, daß sie ihr Herz nicht verlieren, sondern Dominicks statt dessen gewinnen würde?
Sie beendeten das Gespräch, ohne daß Anne dem Duke of Rutherford etwas versprach. Seltsamerweise hatte sie anschließend ein schlechtes Gewissen, weil sie so unnachgiebig geblieben war, denn sie mochte den Herzog aufrichtig.
Sie eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer und war froh, daß sie keinem Menschen begegnete. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen. Sie hatte nicht die Absicht, sich umzuziehen und mit der übrigen Familie das Dinner, das heute wegen der Beisetzung später serviert wurde, einzunehmen. Sie war viel zu erschöpft, um sich erneut mit jemandem zu streiten, schon gar nicht mit Dominick St. Georges.
Sie war zu müde, um sich seiner eindringlichen Prüfung noch einmal auszusetzen, und hatte nicht die Kraft, seinen langen vielsagenden Blick zu ertragen, dessen Bedeutung ihr durchaus bewußt war.
Vorsichtshalber schloß sie ihre Zimmertür ab. Das hatte sie noch nie getan.
Es war vier Jahre her, daß sie die Nacht mit ihrem Ehemann unter einem Dach verbracht hatte. Es war ihre Hochzeitsnacht gewesen. Damals hatte sie die Tür nicht verriegelt.
Annes Schläfen begannen zu pochen. Bisher hatte sie verzweifelt versucht, diese Hochzeitsnacht zu vergessen - die zweitschlimmste Nacht ihres Lebens.
Tränen rannen ihre Wangen hinab. Sie konnte sie nicht aufhalten. Wenn sie Dominick St. Georges nur abgrundtief für alles verabscheuen könnte, was er ihr angetan hatte. Aber das war ja das Schlimme. Anne hatte den Verdacht, daß sie diesen Mann kein bißchen verabscheute.
Anne wartete.
Sie saß in ihrem Bett, und das schwarze Haar fiel locker um ihre Schultern. Sie trug ein weißes Nachthemd aus Paris, das mit Seidenbändern und Spitze besetzt war. Es war ein sittsames Nachthemd mit langen weiten Ärmeln und einem herzförmigen Ausschnitt. Trotzdem hoffte Anne, daß es Dominick gefiel - daß er sie hübsch finden würde.
Sie lehnte sich an ihre Kissen, schloß die Augen und stellte sich vor, wie gut Dominick in seinem weißen Oberhemd und dem schwarzen Gehrock bei der Hochzeit und dem Empfang ausgesehen hatte. Er war stets höflich und aufmerksam zu ihr gewesen und ständig an ihrer Seite geblieben. Allerdings hatte er selten gelächelt und wenn, dann gequält und ziemlich merkwürdig. So charmant wie sonst war er nicht gewesen.
Aber das war verständlich. Wegen des Skandals hatte es nur eine sehr kleine, private Hochzeitsfeier gegeben.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug ein einziges Mal.
Anne erschrak. War es schon ein Uhr morgens? Wartete sie bereits seit zwei Stunden auf Dominick? Besorgt setzte sie sich auf. Wo blieb er?
Wahrscheinlich war er noch unten und feierte mit seinen Verwandten. Sie entspannte sich ein wenig.
Kurze Zeit später stand sie auf und durchquerte das Zimmer, das nur von zwei Kerzen erhellt wurde. Es war eine warme Sommernacht, und die Fenster standen offen.
Anne blickte hinaus und versuchte, etwas zu erkennen.
Aus dem Erdgeschoß fiel kein Licht nach draußen, und außer dem Zirpen der Grillen war kein Geräusch zu hören. Der Empfang war eindeutig vorüber. Die Gäste waren abgefahren, und die Familie war zu Bett gegangen.
Anne stützte sich unbehaglich auf die Fensterbank. Die Mondsichel stand glänzend am schwarzen Nachthimmel. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Wo war
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