010 - Skandal in Waverly Hall
Dominick?
Eine böse Vorahnung erfaßte sie, und es durchrieselte sie eiskalt. Verzweifelt legte sie die Arme um ihren Körper. Sicher war das Fest gerade erst zu Ende gegangen, und Dominick würde jeden Moment zu ihr kommen.
Langsam ging Anne zurück und kroch wieder in ihr Himmelbett. Die beiden Kerzen auf ihrem Nachttisch waren um ein Drittel heruntergebrannt. Schweigend starrte sie in die Dunkelheit.
Sie wartete.
Sie wartete auch noch, als die Kerzen ganz niedergebrannt waren und der Horizont im Osten langsam hell wurde. Mit jeder Minute wurde ihr kälter und elender.
Dominick kam nicht zu ihr.
Kurz daraufhörte Anne einen Wagen und eilte ans Fenster. Die große schwarze Kutsche mit dem silbernen Wappen der Lyons' fuhr im Schein der aufgehenden Sonne davon.
Anne blieb in Tränen aufgelöst zurück.
Anne saß steif im Bett. Es war sinnlos, der Vergangenheit nachzutrauern. Es erinnerte sie nur daran, wie schlecht Dominick St. Georges sie behandelt hatte.
Achtlos wie ein Spielzeug, das er leid geworden war, hatte er sie beiseite geschoben.
Vorhin hatte er verkündet, daß er einen neuen Anfang mit ihr machen wollte. Aber das kam nicht in Frage. Nur eine sehr dumme, naive Frau wäre zu einer Versöhnung mit diesem Mann bereit.
Dominick wollte für immer bei ihr bleiben. Sie, Anne, glaubte nicht, daß sie die Kraft aufbrachte, ihn des Hauses zu verweisen. Doch wenn sie stark blieb und seine Annäherungsversuche immer wieder zurückwies, würde er sein neuestes Spiel sicher bald leid werden und gehen.
Denn es war nichts anderes als ein Spiel.
Dominick konnte es unmöglich ernst meinen. Dafür kam sein Interesse an ihr viel zu plötzlich. Er führte irgend etwas im Schilde, und sie hatte keine Ahnung, worum es ging.
Anne legte die Hand auf die Brust. Ihr Herz raste wie wild, und sie fühlte sich wie in einer Falle. Sie durfte Dominick keine Intimitäten gestatten, das war ihr klar.
Andererseits war er zweifellos ein Meister der Verführung. Sie machte sich keine Illusionen, sie wußte, daß sie ihm nicht gewachsen wäre. Dafür war er viel zu attraktiv. Ein Liebesspiel mit ihm würde sie niemals gewinnen. Deshalb durfte sie es gar nicht erst dazu kommen lassen.
Anne atmete bebend aus. Wie leicht war es, sich so etwas vorzunehmen, und wie schwierig, solch einen Vorsatz durchzuhalten. Aber ihr Schicksal stand auf dem Spiel.
Sie mußte stark sein und standhaft gegenüber Dominick bleiben.
Anne hatte gerade mit Belies Hilfe ihr Kleid und ihre Unterröcke ausgezogen, da hörte sie, daß sich Schritte auf dem Korridor ihrem Zimmer näherten. Sie wußte genau, zu wem sie gehörten.
Dominick klopfte an die Tür. „Anne?"
Anne reagierte sofort. Sie eilte zu ihrem Kleiderschrank, zerrte einen seidenen Morgenmantel heraus und zog ihn über. Dann nickte sie ihrer Kammerzofe zu, und Belle öffnete die Tür.
„Was willst du?" rief Anne.
Dominick lächelte stumm.
Anne blieb ernst. „Was willst du?" fragte sie erneut. „Weshalb bist du nicht unten bei deiner Mutter und deinem Großvater? Das Dinner wird gleich serviert."
„Als dein Ehemann halte ich es für angebracht, daß wir gemeinsam essen. Vor allem, nachdem dies unser erster Abend seit vier Jahren ist." Er sah Belle streng an. „Du kannst jetzt gehen."
Bevor Anne etwas einwenden konnte, floh die Zofe aus dem Zimmer.
Anne eilte ihr nach und wollte Dominick die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch er trat einen Schritt vor und schob seinen muskulösen Schenkel dazwischen. Ihr Ärger verflog, und ihre Besorgnis wuchs.
„Weshalb bist du so widerspenstig?" fragte Dominick leise. „Darf ich hereinkommen? Ich möchte mit dir reden, Anne."
Anne riß entsetzt die Augen auf. „Nein! Wir haben nichts zu besprechen." Dominick hatte doch nicht etwa vor, seine ehelichen Rechte geltend zu machen, nachdem er jahrelang darauf verzichtet hatte?
Er sah sie aufmerksam an, ging an ihr vorüber und betrat den Raum.
Anne fiel plötzlich ein, daß sie nur ein Hemd, ein Korsett sowie ein Spitzenhöschen unter ihrem Morgenmantel trug. Besorgt zog sie die beiden Seiten am Hals zusammen. Sie spürte, wie der Puls unter ihren Fingern pochte.
Dominick schlenderte inzwischen durch das Zimmer und betrachtete neugierig ihre wenigen persönlichen Habseligkeiten. Anne beobachtete ihn argwöhnisch und feuchtete ihre trockenen Lippen an. „So etwas gehört sich nicht."
Er sah sie aufmerksam an. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein einziger Mensch in diesem Haus etwas
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