0101 - Die Menschentiger
Leben war ihm nur eine einzige Frau wirklich gefährlich geworden.
Und die hieß Nicole Duval.
Sie hatte ihn auf ihre vertrackte weibliche Art schließlich ja auch besiegt. Eine Niederlage übrigens, die Professor Zamorra sehr gerne und mit Genuß eingesteckt hatte.
Knirschend lief der Kiel des Bootes aufs sandige Ufer. Die Frau lächelte verlockend. Nicole warf ihrem Chef einen mißbilligenden und zugleich forschenden Blick zu. Sie wollte seiner Miene das entnehmen, was sie im Augenblick bedrückte.
Nach zwei, drei Sekunden schnaubte sie zufrieden. Zamorra hatte sich vom ansehenswerten Äußeren dieser Frau nicht übermäßig beeindrucken lassen.
Sie kletterte steif aus dem Kanu, schaute die Fremde an und sah dann an sich herunter.
»Um Himmels willen«, rief sie echt empört. »Wie sehe ich nur aus!«
Die Frau am Ufer lächelte immer noch ihr gewinnendes Lächeln und zeigte zwei Reihen perlig schimmernder Zähne dabei. Sie kam ihnen ein paar Schritte entgegen.
»Willkommen«, sagte sie in einem Englisch, das kaum einen Akzent erkennen ließ. »Willkommen in unserem nichtsdürftigen Heim. Seien Sie gegrüßt. Sie werden sicher hungrig und durstig sein.«
Nun hatte der Professor alles mögliche erwartet, nur keinen derart herzlichen Empfang. Und schon gar nicht eine Schönheit wie diese, die ihn mit beinahe makellosem Englisch empfing.
Er folgte Nicole ans Ufer. Nicole versuchte, mit ihren Fingern Ordnung in ihre zerstörte Frisur zu bringen. Ein hoffnungsloses Unterfangen.
Zamorra war sich sicher, daß seit ihrer Ankunft auf dieser Insel mit festem Boden noch nicht einmal eine Minute verstrichen war. Aber als er sich zur Alten umwandte, sah er nur mehr das Boot. Die Hexe war und blieb fürs erste verschwunden. Zamorra sah nicht einmal Spuren im schmalen Streifen weißen Sandes, die sie bei ihrem enormen Gewicht hätte hinterlassen müssen.
Die junge Frau fing seinen forschenden Blick auf und beantwortete ihn mit einem betörenden Lächeln. Mit irgendwelchen Erklärungen schien auch sie nicht dienen zu wollen.
»Ich heiße Shurina«, stellte sie sich vor. »Khube, meine Mutter, haben Sie ja bereits kennengelernt. Sie müssen sie entschuldigen. Meine Mutter ist schon sehr alt, und mit den Jahren wurde sie seltsam. Doch sie kennt sich in den Sümpfen besser aus als ich.«
Sollte Zamorra der erste Eindruck getrogen haben? War sie bereit, ihm einige seiner brennenden Fragen zu beantworten?
Nicoles Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.
»Wir haben tatsächlich fürchterlichen Durst«, gestand sie gerade.
»Natürlich«, wandte Shurina sofort ein. »Wie unaufmerksam von mir. Ich hoffe, ich kann Sie zufriedenstellen. Wir haben sonst nie Gäste.«
Zamorra ärgerte sich über Nicole. Doch er würde den Faden bei der sich erstbietenden Gelegenheit wieder aufnehmen, um doch noch mehr aus dieser Shurina herauszubekommen, die sich jetzt umdrehte und mit wiegenden Schritten vorausging. Unwillkürlich wurde Zamorra an den geschmeidigen Gang einer Katze erinnert.
Aber sie steuerte nicht die Pagode an, wie Zamorra zuerst angenommen hatte, sondern eine Lichtung im Wald daneben. Dort war allem Anschein nach bereits ein frugales Mahl vorbereitet. Niedrige Sitzkissen lagen um einen Juteteppich mit herrlichem Muster. Auf dem Teppich lagen Kürbisschalen, die als Trinkbecher dienten, auf einem Palmblatt war eine appetitlich aussehende Reisspeise angerichtet. Es roch auch nach Fleisch.
Mit einer einladenden Geste wies Shurina sie an, Platz zu nehmen. Sie ließen sich im Kreuzsitz auf die Kissen nieder, während Shurina sich auf ihre Fersen hockte.
»Bedienen Sie sich bitte.«
Zamorra entschloß sich, weitere Fragen vorerst hintenanzustellen, als er Nicoles Augen erfreut aufleuchten sah. Auch er fühlte Hunger und Durst in seinen Gedärmen wüten.
Weil nirgendwo ein Besteck zu entdecken war, aßen sie nach Landessitte mit den Fingern. Das Mahl verlief schweigend, und Professor Zamorra mußte zugeben, daß es köstlich schmeckte, wenngleich er die »Küche« lieber nicht zu Gesicht bekommen wollte.
In den ausgehöhlten Kürbissen fand sich Mango-Juice und Kokosmilch. Beide Säfte waren überraschend kühl.
Shurina beteiligte sich ebenfalls am Essen, und sie schöpfte von denselben Speisen, die sie auch ihren Gästen vorgesetzt hatte. So als wolle sie das Mißtrauen von Zamorra nehmen. Zwischendurch sah sie ihn immer wieder mit ihrem berückenden, sphinxhaften Lächeln an, zeigte ihre schimmernden Perlenzähne. Zamorra
Weitere Kostenlose Bücher