0105 - Rückkehr aus dem Geistergrab
Soutane. In seiner Hand baumelte ein Rosenkranz. Er murmelte ständig etwas und bewegte die Lippen, auch, wenn er nicht mit dem Professor sprach. Er wirkte nervös und verstört. Sicher nicht, weil Nicole verschwunden war. Die kannte er überhaupt nicht. Was bedrückte ihn wirklich?
Der jetzt, da sich niemand der Mühe unterzog, mit eigener Hand Brennmaterial im Hochmoor zu stechen, kaum benutzte Pfad schlängelte sich durch das hügelige Land. In weiter Ferne ragte das Öde Rist auf. Es ging ein frischer Wind.
»Was vermuten Sie hinter dem spukhaften Auftreten des Scharfrichters von Mazamet?« erkundigte sich Zamorra.
Ihm machte der frühe Spaziergang wenig zu schaffen Er befand sich in guter Verfassung. Während der Abbé mit seinen wesentlich kürzeren Beinen neben ihm hertrippelte wie eine Bachstelze.
»Sie sind sicher, daß der Kerl mal in natürlicher Gestalt erscheint, mal in einer Weise, die mein Glaube mir verbietet, auszusprechen?« vergewisserte sich Lapin.
Zamorra nickte.
»Dann ist das alles also das Werk eines Verbrechers, der sich gespenstischer okkulter Fähigkeiten erfreut?«
»Es sieht so aus. Obwohl es schwer ist, sich in einem solch frühen Stadium und einem solch ungewöhnlichen Fall bereits jetzt festzulegen. Im Augenblick aber haben wir keine anderen Anhaltspunkte.«
»Und nun wollen Sie von mir wissen, wer Grund hätte, Mazamet einen solchen Possen zu spielen? Und worauf der Mann im Hintergrund aus sein könnte, nicht wahr?«
Zamorra nickte stumm.
Lapin zögerte noch. Natürlich hatte er sich bereits Gedanken gemacht. Er war kein Dummkopf.
»Sehen Sie, wenn ich nicht sicher sein dürfte, daß sich Robert Houdain irgendwo in der Welt herumtreibt, würde ich meinen, er käme in Frage. Aber obwohl er allen Grund hätte, uns zu hassen, ist es unmöglich, daß er seine Rache auf diese Art befriedigt. Denn er war - als er mit siebzehn Jahren von Mazamet weglief - ein ungebildeter Mensch, zurückgeblieben und verwahrlost.«
»Wohin ist er gegangen?«
»Niemand hat ihn je wieder gesehen. Selbst ältere Leute aus dem Dorf, die sich noch genau an den unehelichen Sohn der Florence Houdain erinnern, können sich nicht mehr auf eine Jahreszahl festlegen, wenn sie über sein Verschwinden berichten. Er soll schnurstracks nach Cherbourg gegangen sein und auf einem Schiff angeheuert haben.«
»Warum hatte er Grund, die Gemeinde von Mazamet so zu hassen?«
»Die übliche Geschichte: ein reicher Mann aus dem Ort - den Namen möchte ich Ihnen verschweigen, solange der Betreffende noch lebt - hatte - so ein Gerücht - die Dienstmagd geschwängert. Eben jene Florence. Dieses Gerücht hielt sich hartnäckig, obgleich die Kindsmutter sich stets weigerte, den Namen des Vaters zu nennen. Robert bekam ihren Mädchennamen Houdain. Vielleicht hoffte sie, ihr Wohlverhalten werde eines Tages belohnt. Sie machte sich wohl Hoffnung, das Verhältnis eines Tages legalisieren zu können.«
»Was natürlich nicht der Fall war?«
»Keineswegs. Sehen Sie, die Idylle einer Dorfgemeinschaft täuscht. Sicher, jeder kennt jeden, hilft ihm - aber kann ihn auch lückenlos überwachen. Und übt so einen gewissen Druck aus. Ein Außenseiter oder jemand, der gegen die überlieferten und allgemein anerkannten Grundsätze seiner Gemeinschaft angehen wollte, würde am Widerstand aller scheitern. Und uneheliche Geburten fallen unter ein Tabu, das diese heuchlerische Gesellschaft auf dem Lande erbarmunglos schützt. Was in einer Stadt sicher zu materiellen Schwierigkeiten führen würde - hier bedeutete es den Verlust der Anerkennung einer engen und starren Gemeinschaft.«
»Florence Houdain hatte allen Grund, ihren Fehltritt zu bedauern?«
»Jeden Grund, Monsieur. Jeden erdenklichen Grund. Auch ich bekenne mich schuldig. Ich wollte sie als schlechtes Beispiel den heranwachsenden Mädchen darstellen und habe sie wohl viel zu oft zitiert in meinen Sonntagspredigten.«
»Sie bedauern das?«
»Sicher. Ich habe zwar stets darauf hingewiesen, daß es unchristlich wäre, den ersten Stein zu werfen, aber die Zuhörer - ich mag hier den Ausdruck die Gläubigen nicht benutzen - haben sich ihren eigenen Reim auf die Geschichte gemacht und wesentlich ungehemmter in die gleiche Kerbe gehauen. Sie haben Mademoiselle Houdain ausgestoßen, geächtet und boykottiert. Sie mußte die schmutzigste Arbeit tun. Sie mußte für weniger Geld arbeiten. Sie hatte kaum ein Dach über dem Kopf. Sie war gewissermaßen vogelfrei.«
»Warum ist sie
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