0105 - Rückkehr aus dem Geistergrab
nicht fortgegangen?«
»Wohin? Sie ist hier aufgewachsen. Dies war ihre Heimat.«
»War?«
»Florence Houdain endete als Selbstmörderin. Sie knüpfte sich auf.«
»Robert, ihr Sohn, weiß davon?«
»Er hat es miterlebt. Und auch das unwürdige Schauspiel nachher. Unter dem Druck meiner Gemeinde, die drohte, sich in dieser Angelegenheit notfalls an den Bischof zu wenden, mußte ich der Houdain ein christliches Begräbnis verweigern. Hätte es nicht weltliche Gesetze gegeben, ich hätte ihr nicht einmal einen Platz an der Mauer, ganz abseits, verschaffen können, in der sogenannten Selbstmörderecke. Ehe Sie mich jetzt verurteilen, bedenken Sie bitte, daß ich damals frisch im Amt war. Außerdem kennen Sie die unversöhnliche Einstellung meiner Kirche zum Thema Freitod.«
»Natürlich. Ich verstehe Sie. Ich verstehe das alles. Ich begreife aber auch, wie solche Ereignisse einen jungen Menschen treffen mußten. Selbst einen so ungebildeten wie Robert Houdain. Kennen Sie ihn persönlich noch?«
»Nein - ich habe jedenfalls niemals mit ihm gesprochen. Und nach dem Tod seiner Mutter ist er sofort verschwunden. Bis dahin hat er nicht einmal einen Gottesdienst besucht. Er strolchte lieber in der freien Natur umher. Suchte mit Louis Barret Kräuter und ließ sich über deren vielfältige Wirkungen aufklären. Alle meinten, da offenbare sich bereits sein Hang zum Verbotenen und Geheimnisvollen. Irgendwann werde er dem Dorf zu einer Gefahr. Sie begannen auch Robert Houdain zu drangsalieren. Die Äcker, die er von seinen Großeltern geerbt hatte, nahmen sie ihm mit fadenscheinigen Begründungen fort.«
»Und er ließ sich das alles gefallen?«
»Was wußte er schon? Er war Analphabet. Er wußte überhaupt nicht, unter welche Schriftstücke er seinen Namen kritzelte - die einzigen Buchstaben, die er schreiben konnte.«
»Er hat sich niemals wieder gemeldet?«
»Einmal schrieb er einen recht, wirren Brief an Maitre Lurdent. Darin beklagte er sich über das Unrecht, das ihm widerfahren war. Und die Tatsache, daß seine Mutter von den Bewohnern des Dorfes in den Tod getrieben wurde. Er behauptete, er habe sich eine Liste der größten Übeltäter aufgestellt und der Tag der Rache werde kommen.«
Lapin strauchelte und Zamorra mußte ihm Halt gewähren.
Sie folgten noch immer dem Pfad, der aus nicht mehr als zwei tiefen Fahrspuren bestand und sichtlich seit langer Zeit nicht mehr benutzt wurde.
Es dämmerte bereits. Die Landschaft wirkte besonders trist in diesem ungewissen Licht. Hier und da, in den Senken, waberte der Nebel.
Die ersten Vögel lärmten in den Zweigen.
Plötzlich blieb Professor Zamorra stehen. Er sah Nicoles Wagen, der schräg auf dem Weg stand. Die Schnauze des Citroén hatte sich in die Böschung gewühlt.
»Sie meinen, Sie hat sich hier festgefahren und ist zu Fuß weitergezogen, um Hilfe zu holen?« stieß Lapin hervor, der mitterweile das Fahrzeug auch bemerkt hatte.
»Das wäre noch die glimpflichste Erklärung«, stieß Zamorra hervor und beschleunigte das Tempo. Der Abbé konnte kaum Schritt halten. Er raffte die Soutane, die am Saum inzwischen naß und schmutzig geworden war. Er trug nicht gerade die geeignetste Kleidung für einen Ausflug durch diese Urlandschaft.
Sie erreichten den Citroën.
Der Schlüssel steckte noch im Zündschloß.
Ratlos schaute sich Lapin um.
»Sie kann nicht weit sein!«, murmelte er hilflos. Weil er sich nicht vorstellen konnte, daß jemand seinen Wagen unverschlossen zurückließ. Und Spuren, daß Nicole versucht hatte, den Wagen flottzubekommen, gab es reichlich. Das entging selbst dem Priester nicht.
Zamorra studierte mit ernster Miene den Citroën. Seine beklemmenden Erlebnisse am Richtblock fielen ihm wieder ein. Hatte er dort nicht Nicole auf dem Schafott gesehen? War sie es wirklich gewesen? Er wußte es nicht genau. Noch nicht. Das alles gehörte zu den Dingen, die er aufklären mußte, sollte das Licht über die Dunkelheit siegen.
Wie als Bestätigung aller Befürchtungen schrie Lapin plötzlich in einer Art auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Zamorra warf sich herum und rannte zu seinem Begleiter, der fassungslos auf dem Weg stand und zu einer Schonung hinüberschaute. Anklagend wies sein Finger in die Richtung.
Dort, zwischen den mannshohen Kiefern und Fichten stand eine einsame Gestalt in einem enganliegenden schwarzen Trikot. Die Kapuze ließ knapp das bleiche Gesicht frei.
Das Wesen stützte sich auf ein Richtschwert,
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