0107 - Die Hand des Hexers
brauche eure Hilfe wirklich. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch auf Château de Montagne nicht belästigt.«
»Belästigt«, sagte Nicole und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ich habe mich sehr über deinen Anruf gefreut, Cher.«
Die Schauspielerin legte die Watte beiseite, mit der sie die Schminke vom Gesicht entfernt hatte. Sie streckte Nicole ihre Hände entgegen. »Da. Sieh. Ich zittere. Das ist die unterschwellige Angst, die sich wie eine hungrige Ratte durch meine Eingeweide frißt.«
»Wovor fürchten Sie sich, Mademoiselle Cobalt?« fragte der Professor.
»Nennen Sie mich bitte Cher«, erwiderte das Mädchen.
Zamorra nickte und wartete stumm auf Chers Antwort.
Die Schauspielrin zuckte die Achseln.
Ihr Blick glitt an Zamorra hinunter, erreichte den Boden, blieb dort hängen.
»Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll«, sagte Cher ratlos. »Es ist gar nicht so einfach, das alles in Worte zu kleiden. Man kann so leicht Gefahr laufen, unglaubwürdig zu erscheinen.«
Zamorra munterte das Mädchen auf, indem er sagte: »Was auch immer Sie uns erzählen werden, Cher, ich werde Ihnen glauben.«
Cher Cobalts rosige Zungenspitze tanzte über die vollen Lippen. »Ich beginne am besten mit Flo Danning… Eine Nachwuchsschauspielerin. Ich lernte sie auf einer Party kennen. Wir fanden einander auf Anhieb sympathisch, hatten sehr viele gemeinsame Interessen, und aus der Bekanntschaft wurde erstaunlich schnell eine enge Freundschaft. Ich bin an und für sich nie kontaktarm gewesen, aber fürs Freundschaftschließen brauche ich im allgemeinen doch etwas mehr Zeit. Bei Flo hingegen klappte das auf Anhieb. Deshalb geht es mir jetzt auch besonders unter die Haut, daß sie so unvermittelt von der Bildfläche verschwunden ist.«
»Verschwunden?« fragte Nicole aufhorchend.
Cher Cobalt nickte bedächtig. »Spurlos.«
»Wie kam es dazu?« wollte Zamorra wissen.
Cher hob die Schultern. »Flo war mit ihrem Freund Abel Cimarron vorgestern abend auf einem Rummelplatz im Norden der Stadt. Abel erzählte mir, sie hätten sich großartig amüsiert. Einer ihrer schönsten Abende wäre es gewesen, sagte er. Er brachte Flo Danning ziemlich spät nach Hause. Sie wollten sich am nächsten Tag Wiedersehen, doch Flo hatte sich - mir fällt kein anderer Vergleich ein - in Luft aufgelöst… Wen Abel auch immer fragte, keiner konnte ihm sagen, wo Flo war. Niemand hat sie seit jenem Abend wieder gesehen…«
»Was du uns bisher erzählt hast, Cher«, sagte Nicole Duval ernst, »betrifft alles ausschließlich deine Freundin Flo. Ich sehe keinen Grund, daß du dich deshalb ängstigst.«
»Hör mich weiter an«, bat Cher Cobalt. »Ich habe Flo Danning sehr gemocht. Wir waren oft zusammen. Eines Tages kam sie mir irgendwie verändert vor. Ich sprach sie darauf an, aber sie wollte zunächst nicht so recht mit der Sprache heraus. Erst als ich ihr sagte, ich wäre ihre Freundin und hätte ein Recht darauf zu erfahren, was sie bedrücke, erwähnte sie einen schlimmen Alptraum, der sie die ganze Nacht gepeinigt hatte. Über den Inhalt des Traums schwieg sie beharrlich. Er mußte grauenvoll gewesen sein. In den darauffolgenden Nächten wiederholte er sich, und er schien sich von Mal zu Mal zu verschlimmern. Flo verfiel merklich. Sie wurde nervös und erschrak wegen des kleinsten Geräusches. Kurz darauf erzählte sie mir, sie hätte Dinge gesehen, die außer ihr keiner sehen konnte. Eine Teufelsfratze habe sie verfolgt, berichtete sie. Und ein Mann, der mittelalterlich gekleidet gewesen war, sei ihr am hellichten Tag mitten auf einer belebten Straße erschienen und habe ihr gesagt, daß sie nicht mehr lange zu leben habe…«
Wahnvorstellungen?
Zamorra hätte diese Möglichkeit gelten lassen, wenn Flo Danning nicht verschwunden wäre.
So aber witterte er, daß hier die Mächte der Finsternis ihre verdammten Hände im Spiel hatten.
»Ich mache mir Sorgen um Flo«, fuhr Cher Cobalt mit leiser Stimme fort. »Ich dachte, Flo würde an einem geistigen Defekt leiden, und ich empfahl ihr, einen Psychiater aufzusuchen. An dem Tag, an dem sie zum Seelendoktor gehen wollte, sagte sie etwas Eigenartiges: ›Cher‹, sagte sie. ›Cher, ich habe Angst.‹ ›Wovor fürchtest du dich?‹ fragte ich sie. ›Ich habe Angst, das nächste Opfer des Hexenjägers zu werden‹, erwiderte Flo darauf.«
»Des Hexenjägers?« sagte Nicole Duval erstaunt. »Hexenjagden wurden vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert veranstaltet. Heute
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