0112 - Die Drachensaat
sicher hier schon umgesehen.«
Der Junge nickte.
»Habt ihr vielleicht eine Leiter entdeckt, auf die man klettern könnte?«
»Nein.«
Eine Hoffnung zerbrach. Shao hatte darauf spekuliert, denn sie befand sich schließlich in einem Spritzenhaus, doch die Entführer mussten damit gerechnet haben, dass die Kinder einen Ausbruch versuchen würden, und hatten vorsorglich alle Dinge entfernt.
»Gibt es etwas anderes, auf das man klettern kann?«
Da meldete sich ein Mädchen. Es hatte ebenfalls blondes Haar, das glatt auf dem Kopf lag und an den Seiten von zwei Zöpfen eingerahmt wurde. »Es gibt doch da noch Fässer.«
»Wo?« Shao war wie elektrisiert.
»Da hinten an der Wand. Die habe ich selbst gesehen.«
Die Kleine deutete mit dem Arm in die Dunkelheit. Shao nahm ihre Hand. »Führ mich hin.«
Gemeinsam schritten sie vor. Die anderen Kinder folgten. Sie flüsterten miteinander. Shao hörte aus den Gesprächen, dass sie das Ganze mehr als ein Abenteuer auffassten. Über die wahren Sachverhalte hatte man sie wahrscheinlich gar nicht aufgeklärt. Zum Glück…
Shao hatte auch nicht vor, auf dementsprechende Fragen korrekte Antworten zu geben.
Das Mädchen blieb stehen. »Da sind sie!«
Shao schaute genauer hin. In der Tat waren mehrere Fässer nebeneinander gestellt worden. Wenn man die unter das Fenster schaffte und übereinander stapelte, dann musste es gelingen, durch die Luke zu klettern.
Shao sprach mit den Kindern darüber.
Die waren sofort einverstanden und wollten sich auch die Arbeit machen. Alle stürzten los, doch Shao gebot ihnen Einhalt.
»Immer der Reihe nach«, sagte sie. »Zuerst nehmen wir das Fass, das am nächsten steht.«
Es war zum Glück leer. So bereitete es keine Schwierigkeiten, es unter das Fenster zu schaffen. Das nächste Fass folgte, dann ein drittes und ein viertes anschließend.
»Halt«, sagte Shao, als sie sah, dass die Kinder noch ein weiteres Fass herbeischaffen wollten. »Wir werden sehen, ob es auch so klappt.«
Es wurde schwierig, die Fässer so aufeinanderzustellen, dass noch ein genügend großer Rand blieb, damit man hinaufklettern konnte. Auch leere Blechfässer haben ihr Gewicht, das merkten Shao und die Kinder sehr deutlich. Das dritte Fass auf das zweite zu stellen, war schon Schwerarbeit. Die Arme der Kinder waren zu kurz, es gelang Shao nur mit Mühe, das Fass so hinzustellen, dass es nicht kippte.
»Geschafft!« stöhnte sie. »Wer klettert zuerst?«
»Die Mädchen«, sagte Ian.
Die Chinesin lächelte und strich dem Jungen über den Kopf. »Kleiner Kavalier, was?«
Ein Mädchen machte den Anfang. Shao half ihr, hochzuklettern. »Und gib acht, damit du dich nicht an den Scherben schneidest, die noch steckengeblieben sind.«
»Okay.«
Die Chinesin gab der draußen wartenden Diana Redford Bescheid, dass die Kinder jetzt kommen würden.
Das erste Mädchen hatte es geschafft und das dritte Fass erreicht. Gespannt schauten alle drei ihr nach. Jetzt griff die Kleine nach dem Fenster, machte eine hastige Bewegung, und die Fässer gerieten ins Wanken.
Sofort packten die anderen zu und stabilisierten den riskanten Aufbau.
»Vorsichtig!« rief Shao.
Das Kind schaffte es. Es schwang sich aus dem Fenster, und Shao hörte, wie Diana Redford der Kleinen Mut zusprach.
»Ich fange dich auf. Spring, Ellen.« Das Girl ließ sich fallen.
Wenige Sekunden später tönte Dianas Stimme. »Alles klargegangen!«
Shao atmete auf.
Das nächste Kind kam an die Reihe, die anderen folgten. Shao wunderte sich, wie diszipliniert sich die Kinder verhielten. Keines tanzte aus der Reihe, keines machte irgendwelchen Krach, alles ging glatt und reibungslos. Als vorletzter kletterte Ian, auch er verschwand durch die Fensterluke.
Danach machte sich Shao daran, diese ungastliche Stätte zu verlassen.
Bei ihrem Gewicht wackelten die aufeinandergestellten Fässer bedrohlich, doch die Konstruktion hielt. Shao erreichte das Fenster.
Unten sah sie die Kinder stehen und zu ihr hochschauen.
Sie lächelte zuversichtlich, doch dieses Lächeln verging ihr, als sie den Blick hob und über das Land schaute.
Die Männer kamen. Sie gingen quer durchs Gelände, und es war klar, welches Ziel sie hatten.
Das Spritzenhaus!
***
»Weg, in Deckung!« brüllte ich Myxin zu, als der Drache uns direkt anflog.
Der kleine Magier warf sich zu Boden, ich lief noch ein paar Schritte und hechtete dann hinter eine Mauer. Wir hörten das Rauschen der gewaltigen Flügel. Große Staubwolken wirbelten auf,
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