0112 - Die Drachensaat
schon unterwegs. Sie warf auch einen Blick zurück, doch vom Dorf her schien sich niemand für sie zu interessieren. Alles lag ruhig und friedlich.
Die Frauen atmeten auf.
Als sie das Fenster erreicht hatten, erlebten sie die erste Enttäuschung.
Es lag wirklich zu hoch.
»Das ist auch mit einem Sprung nicht zu schaffen«, bemerkte Diana Redford.
»Nein.« Shao schaute sich um. »Und eine Leiter gibt es hier auch nicht.«
»Wenn ich dir helfe?«
Shao lächelte. »Das wollte ich gerade vorschlagen.« Sie bückte sich und hob einen Stein vom Boden auf. »Mit dem schlage ich die Scheibe ein. Außerdem bin ich viel größer als du. Das ist von Vorteil.«
Diana gab keine Antwort. Sie baute eine ›Leiter‹, so dass Shao auf ihre Hände steigen konnte. Diana presste sich mit dem Rücken gegen die Schuppenwand und drückte ihre Absätze tief in das Erdreich. So hatte sie den bestmöglichen Halt in dieser Position.
Shao stieg auf Dianas Hände. Das machte sie mit dem linken Fuß, mit dem rechten stieß sie sich ab. Ein kräftiger Ruck - und…
Shao erreichte das Fenster. Mit der linken Hand konnte sie sich an den unter der Scheibe entlanglaufenden kleinen Vorsprung klammern. Mit der rechten Hand holte sie aus und schleuderte den Stein gegen die schmutzige Scheibe.
Sie zerbrach, und sofort vernahmen die beiden Frauen helle Kinderstimmen.
»Kannst du noch?« fragte Shao.
»Ja.« Die Antwort klang gepresst.
Shao hatte Glück gehabt. Der Stein hatte fast die gesamte Scheibe zerstört. Wenigstens hingen an der unteren Rahmenführung keine Glasreste mehr, so dass Shao sich dort festklammern konnte.
Sie nahm auch die andere Hand zu Hilfe.
»Jetzt kannst du loslassen!«
Diana folgte der Aufforderung. Sie dachte jedoch nicht daran, Shao im Stich zu lassen, sondern hob beide Arme und stützte Shaos Füße mit ihren Händen ab. Es war eine gute Hilfe für die schwarzhaarige Chinesin.
»Geht es?« fragte Diana. Ihre Stimme zitterte dabei.
»Ja.«
Shao packte noch fester zu und verzog das Gesicht, weil eine kleine Scherbe in ihren rechten Handballen gedrungen war. Dann zog sie sich mit einem Klimmzug hoch und stützte sich dabei mit den Fußspitzen an der Holzwand ab. Sie fand kaum Halt, weil die Wand sehr glatt war und es wenig Ritzen oder Fugen gab. Sie rutschte ein paar Mal ab und prellte sich böse beide Knie. Schließlich hatte sie es geschafft. Sie konnte sich auf die Hände stützen und benötigte auch nicht mehr die Hilfe des Mädchens.
Shao befand sich mit ihrem Oberkörper in Höhe des Fensters und beugte sich nun vor. Sie schaute in Kindergesichter, die zu ihr hochstarrten.
»Geht weg!« rief sie zischend. »Ich muss springen.« Die Kinder traten zur Seite.
Shao schwang ein Bein über die schmale Fensterbrüstung. Dabei zog sie die Schulter hoch und drückte mit der Rundung noch eine spitzte Scherbe aus dem Rahmen.
Shao sprang.
Für eine unendlich lange Sekunde hatte sie Angst, sich den Knöchel zu verstauchen, doch sie kam gut auf. Alles ging glatt.
Shao federte in den Knien nach, ging einen weiteren Schritt vor und stand.
Es war dämmrig. Die Chinesin sah sich um und blickte in blasse Gesichter mit großen, ängstlichen Augen.
»Wer bist du?« An der Stimme erkannte sie den Jungen, der mit Diana Redford gesprochen hatte. »Du bist doch nicht Diana Redford.«
Die Chinesin lächelte. »Nein, das bin ich nicht, aber Diana wartet draußen. Sie ist nicht so gelenkig wie ich, deshalb hat sie mich vorgeschickt.«
Der Junge sah sie schräg an. Er hatte helles Haar und einen pfiffigen Gesichtsausdruck. »Wir glauben dir nicht!«
»Das kann ich verstehen.«
Shao fasste nach dem Arm des Jungen. Er wollte erst zurückzucken, überlegte es sich dann und ließ die Berührung geschehen. »Wie heißt du?« wollte Shao wissen.
»Ich bin Ian.«
»Okay, Ian, mein Name ist Shao, und ich komme aus China, lebe aber jetzt in London. Es ist klar, dass du misstrauisch bist. Schließlich hast du ja die Verantwortung für die übrigen Kinder, wie ich sehe. Tritt ans Fenster und ruf Dianas Namen.«
Der Junge nickte, ging ein paar Schritte vor und rief nach Diana.
Sie antwortete. »Es ist alles okay. Ihr könnt euch auf Shao verlassen, sie ist wirklich nur gekommen, um euch zu helfen.«
»Danke, Diana.«
Shao hatte inzwischen auf die anderen Kinder beruhigend eingesprochen. Jetzt wandte sie sich wieder Ian zu. »Wir müssen überlegen, wie wir hier herauskommen«, sagte sie.
»Was meinst du? Du hast dich doch
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