012 - Der mordende Schrumpfkopf
dem Papier. Ein süßlicher,
verwesungsähnlicher Geruch haftete dem Blatt an. Blut!
Er irrte sich nicht. Estrello hatte die Namen mit Blut
geschrieben. Mit dem Blut seiner Opfer? Anjas Worte kamen X-RAY-3 in den Sinn.
Estrello hatte Opfer gebraucht. Einmal im Jahr. Es stimmte! Zwar nicht auf den
Tag genau, doch hatte Estrello sich immer daran gehalten, einmal im Jahr eine
junge Frau zu opfern. Das handgeschriebene Buch des Magiers wies auch eindeutig
daraufhin, daß er den Auftrag hatte, diese Blutopfer zu bringen. Kalt und
gewissenlos hatte er die Morde vollbracht. Es war das Werk eines Wahnsinnigen,
eines Besessenen oder aber eines Mannes, der tatsächlich mit finsteren Mächten
in Verbindung stand.
Larry hatte in seinem Leben schon viel Ungewöhnliches erlebt.
Gerade während seiner Tätigkeit als Agent der PSA war er mit Dingen
konfrontiert worden, die über das Begriffsvermögen eines Menschen gingen.
X-RAY-3 wußte, daß er hier einem Phänomen gegenüberstand, das
unter allen Umständen näher durchleuchtet werden mußte.
Er klappte das schwarze Buch zu und nahm sich vor, den Inhalt in
einer ruhigeren Stunde genauer zu studieren. Er warf einen Blick auf Jorge. Der
junge Südamerikaner stand völlig in Gedanken versunken vor dem Regal und las in
einem Buch. Larry hatte seine Taschenlampe mit dem Strahl nach oben auf den
kleinen Schreibpult gestellt, um selbst beide Hände frei zu haben.
Nachdenklich blickte er sich um. Anja hatte etwas von Gepäckabteil
gesagt.
Befand sich die Leiche Juanitas noch zwischen den zahlreichen
Gepäckstücken? Wenn er, Larry, in Gedanken Estrellos Wege nachging, dann hatte
der Magier praktisch keine Gelegenheit gefunden, sich der Leiche zu entledigen.
Nach Anjas Worten zu urteilen, mußte Estrello einen ganz
bestimmten Ritus einhalten. In einem luftdicht abgeschlossenen Behälter sollte
die Leiche mumifizieren.
X-RAY-3 nahm das Feuerzeug aus seiner Tasche und zündete die
beiden armdicken Kerzen an, die am Kopfende des Schreibpults standen. Sie waren
kaum benutzt. Offenbar hatte Estrello auf diese primitive Lichtquelle
zurückgegriffen, wenn die Hauptversorgung ausgefallen war. Es konnte aber auch
ohne weiteres möglich sein, daß Estrello zu bestimmten Stunden beim Studium
seiner okkulten Schriften und Bücher diese Kerzen angezündet hatte.
»Verderben Sie sich die Augen nicht, Jorge!« sagte X-RAY-3,
während er nach seiner Taschenlampe griff. »Ich sehe mich einstweilen in der
Gegend um. Falls Sie länger hier zu tun haben, würde ich Wert darauf legen,
später noch mal mit Ihnen zu sprechen.«
Jorge hob nicht mal den Blick. Larry gewann den Eindruck, als
hätte der Südamerikaner ihn gar nicht gehört.
Er stieß Jorge an. Da erst zuckte er zusammen. »Was ist?« In
seinen Augen irrlichterte der Kerzenschein.
»Lassen Sie sich nicht verhexen!« In der Art, wie Larry sprach,
hörte es sich an, daß er es genauso ernst meinte.
»Vertiefen Sie sich nicht allzusehr in den Text! Man kann nie
wissen, welche dunklen Kräfte Sie unerwartet zu wecken vermögen.«
X-RAY-3 verschwand im Schlafraum des Busses. Von hier aus suchte
er den Gepäckraum auf. Der grelle Lichtstrahl wanderte über die dunklen Truhen
und Kästen und zitterte auf den schweren Stoffbahnen, die über Messingständern
hingen.
Mit aufmerksamem Blick näherte sich Larry der ersten Kiste und
öffnete sie...
Jorge war völlig in den Text versunken, den er entdeckt hatte und
der einige von Estrellos unerklärlichsten Tricks aufzeigte.
Dem Südamerikaner wurde nicht bewußt, wie der Schatten sich hinter
dem Vorhang löste und langsam und lautlos auf ihn zukam.
Eine Hand griff nach einem schweren bronzenen Kerzenständer auf
dem Nachttisch und nahm ihn lautlos herunter.
Blitzartig erwischte Jorge sein Schicksal. Noch ehe er begriff,
daß etwas geschah, krachte der schwere Ständer auf seinen Hinterkopf.
Die schattengleiche Gestalt, die das Gespräch zwischen Larry und
Jorge belauscht hatte, fing den Bewußtlosen auf und ließ ihn schnell zu Boden
gleiten. Dann huschte die Gestalt weiter. Die Tür zum Gepäckraum stand offen.
Der Mann verhielt in der Bewegung und starrte auf den Amerikaner, der in diesem
Augenblick den Deckel einer großen, längs stehenden Truhe öffnete. Der
Lichtstrahl von Brents Taschenlampe wanderte über den roten Seidenstoff, mit
dem das Innere der Truhe ausgeschlagen war. Jeden Zentimeter des Bodens und der
Innenwände tastete X-RAY-3 mit den Fingern ab, ohne sich darüber im
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