0125 - Wir stutzten ihm die Krallen
sie schwach.
»Güten Morgen, Miss Cell. Setzen Sie sich. Na, fühlen Sie sich nicht wohl?«
Der Professor sah aufmerksam in das blasse Gesicht seiner Sekretärin. Er war keiner von den Gelehrten, die nur Augen für ihre speziellen Interessen haben und die Umwelt rings um sich so gut wie nicht bemerken.
Porty kämpfte mit den Tränen. Wenn sie doch nur einen Menschen gehabt hätte, dem sie alles erzählen könnte. Mit einem völlig fremden Mann über diese peinliche Geschichte zu sprechen, das würde doch reichlich unangenehm sein.
»Ich glaube, es geht Ihnen wirklich nicht gut. Warten Sie, zuerst sollen Sie einmal einen Schluck Whisky trinken. Das hilft immer ein bisschen, wenn man sich unwohl fühlt.«
Holder ging hinüber zu dem Wandschrank neben dem großen Bücherregal und schenkte seiner Sekretärin ein wenig Whisky ein. Er brachte ihr das Glas und sagte in seiner gütigen Art: »Da! Nun trinken Sie das erst mal.«
»Danke; ich möchte nicht…«
»Doch, doch! Sie werden sehen, es wird Ihnen guttun! Kommen Sie!«
Gehorsam nahm Porty das Glas und stürzte das scharfe Zeug hinunter. Der brennende Alkohol trieb ihr die Tränen vollends in die Augen. Sie war Whisky pur nicht gewohnt.
Holder setzte sich wieder und sah seine Sekretärin freundlich an.
»Nun sagen Sie mir offen, was Ihnen fehlt, Miss Cell! Ich habe für alles Verständnis. Genieren Sie sich nur nicht! Haben Sie gestern Abend mit ein paar Bekannten ein bisschen zu ausgiebig gefeiert? Noch einen starken Kater, was? Das…«
Er brach ab, als er sah, dass das junge Mädchen den Kopf schüttelte. Besorgt sah er sie an. Mitleid mit allen Schwachen und Kranken gehörte zu seiner weichherzigen Natur. Er konnte niemand leiden sehen, ohne dass nicht seine Teilnahme erwachte.
Behutsam strich er über die schlanken, unruhigen Finger seiner Sekretärin.
»Sie sollten sich wirklich aussprechen, Miss Cell«, sagte er in zuredendem Ton. »Ich weiß ja, dass Sie niemand haben. Wenden Sie sich nur an mich. Sagen Sie, was Sie bedrückt. Sie werden sehen, dass es Sie erleichtert, wenn Sie mit mir darüber sprechen.«
Seine gütigen Worte brachen in Porty den letzten Damm. Sie schluchzte verzweifelt auf, ließ den Kopf auf die Hände sinken und weinte. Eine Weile ließ Holder sie gewähren, dann strich er ihr einmal scheu übers Haar und sagte: »Nun, was quält Sie denn so sehr?«
Porty stöhnte auf. Dann tupfte sie die Tränen von den Wangen und sagte wieder mit festerer Stimme: »Können Sie sich daran erinnern, dass ich gestern angerufen wurde?«
»Sicher. Ich nahm den Anruf ja sogar entgegen.«
»Ja, richtig. Eine Dame war am Apparat und sagte, dass sie im Auftrag der Anwälte Smith & Miller anriefe. Man müsste mich möglichst noch am Abend in einer Erbschaftsangelegenheit sprechen, die keinen Aufschub dulde.«
»Gestern Abend noch?«, erwiderte Holder mit sehr gerunzelter Stirn. »Das ist ja sehr ungewöhnlich.«
Porty nickte.
»Das hätte ich mir auch sagen sollen. Aber ich war schon durch das Wort Erbschaft verrückt gemacht worden. Jeder Mensch träumt doch ein bisschen von dem großen Tag seines Glücks, von unerwartetem Reichtum und so… nicht wahr?«
Holder lächelte.
»Oh, ich nicht. Aber mich dürfen Sie nicht gerade zum Maßstab nehmen. Ich bin meistens mit dem zufrieden, was ich habe. Wer sich wie ich immer nur mit der großen Kunst dieser Welt befasst, der wird demütiger und bescheidener in seinen Ansprüchen. Aber fahren Sie nur fort! Da waren also zwei Rechtsanwälte, die Sie gestern Abend noch zu sprechen wünschten?«
Porty schüttelte in einem Anflug von Pedanterie den Kopf.
»No, eine Dame war am Apparat, die so tat, als ob sie mich im Auftrag von zwei Rechtsanwälten sprechen wollte. Es wäre eilig, sagte sie. Ob sie mich mit dem Wagen abholen könnte. Ich sagte zu.«
»Das muss aber eine sehr, sehr eilige Angelegenheit gewesen sein! Ich habe noch nicht gehört, dass Rechtsanwälte ihre Klienten mit dem Wagen abholen lassen.«
Porty nickte wütend.
»Ich auch noch nicht, und ich fiel trotzdem auf den ganzen Schwindel herein. Sie erinnern sich, dass ich Sie bat, im Vorzimmer noch ein paar Minuten warten zu dürfen?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Nun, als ich schließlich auf der Straße stand, wartete tatsächlich ein brauner Cadillac auf mich. Am Steuer saß eine sehr schöne, schwarzhaarige Frau, die sich als Privatsekretärin der beiden Anwälte vorstellte.«
»Sagte sie ihren Namen?«
»Ich weiß es nicht mehr.
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