014 - Draculas Höllenfahrt
anderes als die Wirkung auf die neue Therapie,
die ich vor vier Tagen eingeleitet habe. Ich bin überzeugt davon, daß wir ihn
in spätestens drei Tagen frei herumlaufen lassen können. Er darf sich dann im
Haus und im Park bewegen, und er wird keiner Menschenseele etwas zuleide tun.«
»Aber …«
Aston ließ seinen Assistenten erst
gar nicht zu Wort kommen. »Was wir eben hier erlebt haben, stellt praktisch
nichts anderes dar als eine Art von Krise, Dr. Cushing. Nach seinem Unfall
wurde Marchner zum Menschenfeind – er wandte sich seinen Vögeln zu, denen er
nichts zuleide tat. Seine Aggressivität aber hat sich nun ins Gegenteil
verkehrt – ich werde Ihnen näheren Einblick gewähren, sobald die Dinge einen
positiven Abschluß gefunden haben. – Und nun kümmern Sie sich bitte um den
Bericht. Ich möchte die Unterlagen über den Patienten in Zimmer 37 bis
spätestens heute nachmittag auf meinem Schreibtisch haben.«
»Natürlich, Dr. Aston.« Cushing
verschwand eine Etage höher.
Als Cushing nicht mehr zu sehen
war, gab er dem Muskelprotz Barners den Auftrag, die Zelle Marchners ständig zu
kontrollieren.
»Wenn sich etwas in seinem
Verhalten verändern sollte, Chuck, dann gib mir sofort Bescheid. Ich bin
entweder in meinem Arbeitszimmer oder im Labor.«
Ohne noch ein Wort zu verlieren,
suchte er zunächst sein Arbeitszimmer auf. Mit fahrigen Finger zündete er sich
eine Zigarette an.
Nachdenklich stand Aston vor dem
Fenster und starrte hinaus in den düsteren Park. Der Tag war trüb und
regnerisch. Feine Nebelschwaden zogen zwischen den schwarzen Baumstämmen dahin
und lagen wie ein hauchdünner Schleier auf dem belaubten Boden.
Astons Gesicht war wächsern.
Er ahnte, was geschehen war, aber
er wollte es sich nicht eingestehen.
Die Entdeckung, daß 0,5
Kubikzentimeter Draculablut aus seinem Labor entwendet worden waren, stand in
unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geschehen um William Marchner. Ihm war das
Blut injiziert worden. Deutlich hatte man den Einstich in der Vene sehen
können.
Die halbangerauchte Zigarette im
Ascher ausdrückend, verließ Aston sein Arbeitszimmer. Er betrat erneut sein
Labor. Für Sekunden spielte er mit dem Gedanken, Hutchinson zu wecken.
Er war der Übeltäter! Es gab keinen
Zweifel mehr.
Immer stärker ergriff die Person
des wahren Dracula Besitz von ihm. Hutchinson war nicht mehr Hutchinson! Sein
Wesen war umgewandelt. Aber nun gab es außer ihm noch einen zweiten Vampir in
der Anstalt.
Wie in Trance öffnete Aston den
schmalen Spind, wo außer verschiedenen Arztkitteln auch ein schwarzer, mit
roter Seide gefütterter Umhang untergebracht war.
Mit einer beinahe zärtlichen
Bewegung ließ Aston seine Finger über den Stoff gleiten.
Draculas Umhang!
In zwei Tagen, wenn das große
Maskenfest, das er einmal jährlich im Sanatorium veranstaltete, über die Bühne
ging, würde er ihn benutzen.
Aston nahm ein Reagenzglas, in dem
sich einige Tropfen unvermengten Draculablutes befanden. Er fühlte seine
Experimente mit den ungewöhnlich rätselhaften Eigenschaften dieses Lebenssaftes
weiter. Vorsichtig nahm er mit einer Pipette einen Blutstropfen auf ein Glasplättchen,
verrieb ihn und mengte ihn mit einer bläulichen Flüssigkeit. Er dachte wieder
daran, Dr. Crowton zu benachrichtigen, um endgültig zu einem greifbaren
Ergebnis zu kommen. Diese Dinge hier fielen eigentlich weniger in seinen
Aufgabenbereich. Über Grundlagenforschungen auf dem Gebiet der
Blutgruppenbestimmungen war er nie hinausgekommen. Aber dann tauchte da ein
anderer, mächtiger Gedanke in ihm auf und verdrängte alles übrige. War es denn
wirklich so wichtig, Näheres über Draculas Blut zu erfahren? Es einfach
hinzunehmen – so wie es war, das Geheimnis zu wahren – das eigentlich war doch
seine Aufgabe!
Die Sorgen, die ihn noch eben
bedrückten, wichen.
Klarheit erfüllte sein Bewußtsein.
Es war nicht schlimm, daß er mit Hutchinson das Experiment durchführte. Und es
war auch völlig bedeutungslos, daß Marchner mit dem Blut Draculas in Berührung
gekommen war. Es mußte so sein.
Die Sehnsucht, so zu sein wie
Dracula, erfüllte ihn mit einemmal in einem Maß, daß es ihn erschreckte. Aber
der Gedanke an Furcht versank wieder in der Tiefe seines Bewußtseins.
Wie ein Blitz spaltete der Wahnsinn
sein Bewußtsein und drang das Fremde, Unfaßbare, Fordernde in ihn ein. Er
konnte es nicht abweisen. Es war stärker. Und der Boden, auf den das Samenkorn
dieser Forderung fiel, war
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