015 - Das Blutmal
Fall bekannt, der den vorhin geschilderten Einzelheiten entspricht. Eine gewisse Anna …«
Bei der Nennung ihres Vornamens glitt Anna besinnungslos vom Hocker und blieb regungslos liegen.
Vor der gynäkologischen Station lauerten Reporter und Fotografen. Mehrere Übertragungswagen des Fernsehens parkten neben der Rampe für die Krankenwagen. Erst als Veit seinen Personalausweis zeigte, ließ die durch den Rummel sichtlich verärgerte Schwester ihn durch.
»Uns muss das passieren!« sagte sie verdrießlich. »Fahren Sie mit dem Paternoster zur dritten Etage. Professor Idusch wartet im Schwesternzimmer auf Sie.«
Veit fuhr nach oben. Er hörte Kindergeschrei. Für die Eltern mochte das Musik sein. Ihn peinigte das Schreien und Quäken und sicher auch Idusch, dem die schönste Stunde seines Lebens zur bittersten geworden war. Die abgedroschene Phrase von der Flüchtigkeit des Glücks drängte sich ihm auf.
Idusch saß auf einem der weißen Stühle, die Hände flach auf die Knie gelegt. Er sah Veit mit vom Weinen geröteten Augen an.
Veit machte ganz gegen seine Gewohnheit eine linkische Verbeugung. »Tag, Professor.«
»Tag, Kloss.«
Seine umschatteten Augen schlossen sich einen Wimpernschlag lang. Dann musterten sie Veit mit einer Mischung aus Verbitterung und Furcht.
»Wo ist sie jetzt?« fragte er heiser.
Veit wusste, wen Idusch meinte.
»Zu Hause«, antwortete er. »Jedenfalls, als ich fort ging. Sie weiß jetzt von unserem Verdacht. Sie nahm sich …«
»Verdacht?« höhnte Idusch. »Sie reden noch von Verdacht?« Er hielt die Hände vor seine Augen. »Ich wage nicht, zu meiner Frau zu gehen.«
»Ist es so schlimm?« fragte Veit mitfühlend.
»Wissen Sie, Kloss, der Chefarzt erklärte mir, dass in diesem Haus schon mehr als achtzigtausend Kinder zur Welt kamen. So etwas wie bei Leonoren ein …«
Er brach verstört ab.
»Außer dem Nagel – ich meine, ist das Kind sonst …?«
»Kloss«, stöhnte Idusch, »ich weiß, es klingt böse, aber ich wünschte, dieses Kind würde nicht leben. Ich kann nur ahnen, was meine Frau empfinden muss.«
Jetzt, wo er von dem Entsetzlichen sprach, sackte er noch mehr zusammen.
»Der Tod wäre in diesem Fall eine Gnade gewesen.«
Veit schritt um Idusch herum und stellte sich hinter ihn, weil er die absolute Trostlosigkeit in dessen Augen nicht ertragen konnte.
»Kloss, wissen Sie, wieviel ein Kind normalerweise bei einer Geburt wiegt?«
»Na, ungefähr sechs, acht, zehn Pfund.«
»Richtig. Und was meinen Sie, wieviel unser Kind wog?«
Veit wagte keine Antwort.
»Ich will es Ihnen sagen, Kloss. Einundzwanzig Pfund und dreihundert Gramm. Und das Absurde: trotz dieses unvorstellbaren Gewichts hatte meine Frau keine Schmerzen.« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Ach, wäre das doch alles …«
In einer spontanen Gefühlsaufwallung legte Veit seine Hand auf die Schulter des gebrochenen Mannes. »Ich weiß, Mitleid ist kein Trost.«
»Es gibt keinen Trost für uns. Halten Sie sich fest, Kloss, das Fürchterlichste habe ich Ihnen noch nicht erzählt. Kaum hatte das Kind den Mutterleib verlassen, begann es zu sprechen.«
»Zu sprechen?« wiederholte Veit verblüfft.
»So ist es. In unverkennbar schweizerischem Jargon. Und es war kein liebes Stammeln. Nein, unser Kind fluchte, Kloss fluchte und verfluchte die Mutter. Die eigene Mutter. Du verdammtes Biest! war noch das mildeste Schimpfwort.«
»Das Kind konnte gleich sprechen?«
»Es redet und redet, schlägt um sich, verweigert die Nahrung und brüllt nach Wein. Nach Wein, Kloss!«
Ein Weinkrampf schüttelte Idusch.
»Der leitende Arzt riet zur Nottaufe«, fuhr er fort. »Der zuständige Geistliche lehnte es ab, gebrauchte Ausflüchte. Ich weiß warum: einer Teufelsgeburt will er den Segen Gottes nicht schenken.«
In diesem Moment flog die Tür auf. Völlig außer Atem und ganz rot im Gesicht stürzte ein Arzt in den Raum.
»Idusch?« fragte er.
Der Professor nickte.
»Ich bin Dr. Striebel.« Der junge Mediziner trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Wappnen Sie sich für eine neue Überraschung, Professor.« Er sah an Idusch vorbei. »Wer packte bei Ihnen zu Hause den Koffer mit der Wäsche für Ihre Frau?«
»Sie selbst. Wieso?«
»Ihre völlig entnervte und verzweifelte Frau verlangte ihre Lesebrille. Sie sagte, sie sei in dem gelben Koffer, den sie selbst gepackt hat.«
»Genauso ist es.«
»Nun. eine Lernschwester brachte den Koffer. Ihre Frau kramte den Schlüssel aus ihrer
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