0153 - Sie nannten sich Löwen und Tiger
zehn Uhr und mit einem Schock.
Kaum war ich im Office angekommen, als Viola, Mrs. Hudsons Pflegerin anrief.
»Mister Cotton«, sagte sie gepresst, »Mrs. Hudson gab mir Ihre Nummer. Ich weiß, wer Sie sind. Mrs. Hudson wird, wie Dr. Bonnister sagte, die nächsten vierundzwanzig Stunden kaum überleben. Es geht rapide abwärts mit ihr, und sie weiß es. Sie lässt Sie bitten, sofort zu ihr zu kommen. Bitte, kommen Sie allein! Aus irgendeinem Grund hatte sie Sie ins Herz geschlossen.«
Ich versprach, mich zu beeilen. Viola empfing mich auf der Treppe. Sie war blass, und es sah aus, als ob sie die Tränen mit Mühe zurück hielt. Sie legte den Finger an die Lippen und führte mich ins Schlafzimmer. In dem breiten Bett lag mit geschlossenen Augen Flora Hudson. Sie war tadellos frisiert, aber der nahende Tod hatte ihr Gesicht bereits gezeichnet.
Sie war genauso weiß wie das Kissen, auf dem sie lag. Unter den Augen lagen schwere Schatten, die Wangen waren eingefallen und die Nase schmal und spitz. Ich setzte mich leise auf einen Stuhl neben dem Bett und wartete.
»Mister Cotton«, flüsterte sie, und erst dann öffnete sie die Augen.
Diese Augen waren das Einzige, was sich nicht verändert hatte. Sie waren klug und sehr lebendig.
»Sie wollten mich sprechen, Mrs. Hudson?«, sagte ich.
»Ja, ich hoffe, Sie werden es einer Sterbenden nicht übel nehmen, wenn sie eine Bitte äußert. Wer mein Ende beschleunigt hat, wissen Sie. Es war der Mann, der Margret tötete.« Sie schwieg und atmete schnell und kurz. Das Sprechen strengte sie an. Dann hörte ich ein Geräusch, das ich zu kennen glaubte.
Ich blickte zur Seite. In der Ecke hockte Lloyd Hudsons Jammergestalt und zog an seinen Fingern, sodass sie Gelenke knackten.
Dann fuhr Flora Hudson so leise fort, dass ich mich zu ihr niederbeugen musste, um sie zu verstehen.
»Finden Sie Margrets Mörder… Finden Sie ihn schnell… Ich kann nicht zur Ruhe kommen, bevor ich darüber Gewissheit habe.«
Ihre Augen hielten die meinen fest, und ihre so unendlich zarte und zerbrechliche Hand kam tastend über die Bettdecke gekrochen.
Ich fasste die kalten Finger, und wie unter einem Zwang antwortete ich:
»Ich verspreche Ihnen, dass ich ihn finden werde, schnell finden werden, und wenn es der letzte Fall ist, den ich im Leben erledige.«
»Danke.«
Ihre Augen waren schon wieder geschlossen, und ihre Stimme kaum vernehmbar. Ich blieb noch so lange sitzen, bis Viola mir winkte. Dann ging ich auf den Zehenspitzen zur Tür. In der Ecke hockte immer noch Lloyd Hudson und ließ die Fingergelenke knacken.
Draußen bat die Pflegerin: »Sagen Sie Bob und Marcia nichts von Mrs. Hudsons Zustand. Sie hat ausdrücklich verboten, die beiden zu unterrichten.«
Als ich ging, war ich erschüttert. Ich hatte unter dem Einfluss dieser Erschütterung ein leichtfertiges Versprechen gegeben, und ich hatte es einer Sterbenden gegeben. Solche Versprechen muss man halten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wollte ich Margret Hudsons Mörder fassen, und ich hatte das Gefühl, dass ich es schaffen würde.
***
Dann ließ Mister High mich rufen, den ich natürlich über alles auf dem Laufenden gehalten hatte.
»Ich weiß es bereits«, sagte er. »Dr. Bonnister hat mich ebenfalls gebeten, Flora noch einmal zu besuchen. Übrigens wird heute Mittag Margrets Beerdigung stattfinden.« - »Wann?«, fragte ich. »Wenn es mir möglich ist, werde ich da sein.«
»Um zwei Uhr, auf dem-Trinity-Friedhof.«
Um zwölf Uhr war vor dem Jugendgericht die Verhandlung gegen die am Vorabend verhafteten Aufrührer. Dieses Mal kamen sie nicht so billig davon. Siebenundvierzig bekam längere Gefängnisstrafen wegen Bandenverbrechens, weitere achtzehn, darunter sechs Mädchen, kamen mit Jugendstrafen davon, der Rest wurde zwar aus Mangel an Beweisen freigelassen, aber unter die Aufsicht der Jugendbehörde gestellt. Ähnlich erging es auch den Mitgliedern der Tiger-Gang. Alle bei denen eine Waffe gefunden worden war, bekamen Strafen. Heute konnte weder Rechtsanwalt Paulsen noch seine beiden Kollegen, die ihm assistierten, etwas durchsetzen. Richter Larsen fuhr ihnen gewaltig über den Mund.
Über Margrets Bestattung ist nicht viel zu sagen. Trotz der Berge von Blumen, trotz der Gesänge des Kirchenchors und der tröstlichen Ansprache des Geistlichen war es eine scheußliche Angelegenheit, und Phil und ich waren froh, als sie vorüber war. Der Einzige, den das alles nicht zu rühren schien, war Mister Hudson, der im
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