017 - Der Engel des Schreckens
ihnen«, wiederholte sie, als sie die Seiten überflog.
»Auch die Klugen werden manchmal gefaßt«, bemerkte Briggerland düster.
»Niemals.« Jean klappte das Buch energisch zu. »In England, Frankreich, Amerika, beinahe in jedem zivilisierten Lande laufen heutzutage Mörder herum; Mörder, denen der größte Respekt erwiesen wird; Mörder, deren Verbrechen der Polizei unbekannt geblieben sind. Aber nun hör mal zu!« Sie schlug das Buch wieder auf. »Hier ist der Fall Rell; der Mann brachte einen unbequemen Gläubiger mit Rattengift um. Die ganze Stadt wußte, daß er Rattengift gekauft hatte, jedermann wußte, daß er verschuldet war. Welche Chance hatte Rell, unbestraft zu bleiben? Und hier Jewelville - er tötete seine Frau, vergräbt sie im Keller und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, indem er ausreißt. So unglaublich dumm! Was haben wir hier? - Gordon, der seine Schwägerin umbringt -sie war hoch versichert; am hellichten Tage kauft er Gift, und dann findet man noch das Fläschchen in seiner Tasche. Solche Leute verdienen doch nichts anderes, als gehängt zu werden.«
»Wenn du doch, um Himmels willen, nur nicht vom Hängen reden wolltest«, sagte Briggerland kläglich. »Du bist unmenschlich - wirklich, Jean, du bist. . .«
». .. ein Engel«, lachte sie, »und ich kann es dir beweisen. Ich habe genug Zeitungsausschnitte, die das behaupten! Der ›Daily Recorder‹ brachte eine ganze Spalte über mich, mein Äußeres, mein Auftreten als Zeugin - bei der Verhandlung gegen James Meredith, weißt du!«
Er sah den Brief auf dem Schreibtisch liegen und nahm ihn auf.
»Du hast also doch an die Dame geschrieben! Schickst du ihr die Schmucksachen?«
Sie nickte.
»Du hast doch wohl keine Dummheiten vor?« fragte er argwöhnisch.
»Mein lieber Vater.« Jean zog die Worte in die Länge. »Nach der Vorlesung, die ich dir über die mangelnde Intelligenz des Durchschnittsverbrechers gehalten habe, glaubst du da wirklich, daß ich mir irgendeine - Dummheit zuschulden kommen lasse?«
Kapitel 8
»Und was gedenken Sie nun anzufangen, Mrs. Meredith?« fragte Jack Glover.
Er hatte den größten Teil des Vormittags mit der neuen Erbin verhandelt, und Lydia hatte sprachlos zugehört, als er ihr eine lange Liste von Aktien, Grundstücken, Mietverträgen, Bankabrechnungen und ähnlichen Dingen vorlas, deren Besitzerin sie jetzt geworden war.
»Was ich anfangen werde?« Lydia schüttelte unschlüssig den Kopf. »Ich weiß es nicht, habe nicht die geringste Ahnung, Mr. Glover. Mein Kopf kann das nicht fassen.
Soll mir wirklich alles gehören, was Sie da vorgelesen haben?«
»Noch nicht ganz.« Jack ächelte. »Aber es gehört Ihnen schon so weit, daß wir allein auf das Testament hin bereit sind, Ihnen jede nur gewünschte Summe zur Verfügung zu stellen. Das Testament muß erst anerkannt und bestätigt werden. Sind aber diese gesetzlichen Formalitäten erfüllt und die sehr hohen Erbschaftssteuern bezahlt, können Sie über Ihr Vermögen ganz nach Gutdünken verfügen - könnten das übrigens jetzt schon«, fügte er hinzu.
»Auf jeden Fall ist ein weiterer Aufenthalt hier in der Brinksome Street - für Sie gänzlich ausgeschlossen, und ich habe mir gestattet, eine möblierte Wohnung für Sie zu mieten. Einer unserer Klienten ist nach dem Kontinent verzogen und hat mir die Weitervermietung seiner Wohnung übertragen. Die Miete ist sehr niedrig, ungefähr zwanzig Pfund pro Woche.«
»Zwanzig Pfund«, stammelte das junge Mädchen entsetzt, »um Gottes willen, das kann ich ja niemals -« Aber dann wurde ihr klar, das sie ›konnte‹. Zwanzig Pfund in der Woche bedeuteten ja gar nichts für sie. Dieser kleine Vorfall brachte ihr mehr als alles andere den Umfang ihres Vermögens zum Bewußtsein.
»Ich glaube auch, ich muß hier ausziehen. Mrs. Morgan will das Haus aufgeben und hat mich schon gefragt, was ich für Absichten habe. Ich glaube, sie würde ganz gern als Haushälterin zu mir kommen.«
»Das paßt ja ausgezeichnet«, nickte Jack. »Ein Kammermädchen brauchen Sie auch, und dann müssen Sie natürlich für die Nacht Jaggs in Ihrer Wohnung haben.« »Jaggs? Wer ist denn das?« »Jaggs«, wiederholte Jack Glover feierlich, »Jaggs ist -Sehen Sie, Miss ... ich bitte um Verzeihung, Mrs. Meredith ... sehen Sie, ich mache mir große Sorgen um Ihre Sicherheit und hätte gerne, daß Sie in der Nacht einen Wächter in Ihrer Wohnung haben, auf den Sie sich verlassen können. Sie halten mich für eine überängstliche
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