017 - Invasion der Kyphorer
er in seinem Leben mitgemacht hatte und die ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken gejagt hatten: Der Ton, der einen Luftangriff ankündigte.
Mit einem Mal mischte sich ein anderer Laut in den Sirenenklang; lauter, näher und noch bedrohlicher.
Der Klang zermürbten Stahlbetons, der dabei war, seine Stabilität und seinen Zusammenhalt zu verlieren.
Ein donnerndes Krachen ertönte und plötzlich stand der Boden des Zimmers schief. Das Bett, in dem Heather lag, rutschte einige Zentimeter, bevor es von einem Schrank aufgehalten wurde. Ein zweites Krachen erklang – der kleine Balkon, auf dem sie früher oft zusammen gesessen und dem Verkehr zugesehen hatten, war verschwunden.
»Alle sind längst weg«, flüsterte die Frau. »Du musst auch gehen!«
»Nein.«
Ihre Hände verschlossen sich ineinander; beide wussten, dass sie hier gemeinsam sterben würden, so wie sie auch gemeinsam gelebt hatten – begraben unter dem zusammenstürzenden Haus.
Es dauerte nicht mehr lange.
*
» Das Ende der Welt ist nahe! «
Der Mann, der diese Worte wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag in ein Kehlkopfmikrophon schrie, befand sich inmitten einer großen Menschenmenge vor einem der ›Houses of Holy‹ des Religionskonzerns ›Freie Seelen‹ in Seabath.
»Das Ende der Welt ist nahe!«, verkündete er erneut, um mit dem griffigsten Slogan des Vanaismus fortzufahren: »Lebt euch mal richtig aus – morgen oder vielleicht sogar heute Abend könnte es schon zu spät sein! Herbei, ihr Leute, herbei! ›Freie Seelen‹ hilft euch, die Invasion zu vergessen und es kostet nicht die Welt! Und wer einen unserer Ablässe mit Goldzertifikat ersteht, hat auch in der jenseitigen Welt nichts zu befürchten! Herbei, ihr Leute, herbei!«
Und sie strömten herbei.
In der Schaltzentrale seines Bunkers, tief unter der Konzernzentrale von ›Freie Seelen‹, betrachtete Guru Ruang Talok diese und viele andere gleich geartete Szenen auf einer Unzahl von Bildschirmen. Die Geschäfte hatten bereits seit dem Bekannt werden der Invasion auf dem Mond geboomt, aber was sich seit Beginn des Angriffs auf die Großstädte der Erde in den und um die ›Houses of Holy‹ abspielte, schlug alle Rekorde. Zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung, schätzte der Guru, rissen sich darum, Drogen, Psychopharmaka und Ablässe zu kaufen. Wer nicht genug Geld hatte, gab Wertgegenstände in Zahlung – goldene Uhren, Armbänder, Perlenketten, Juwelen und Geschmeide. Die komplette Lastgleiterflotte des Konzerns, verstärkt um hastig angemietete Fahr- und Flugzeuge, war damit beschäftigt, die eingenommenen Mengen an Bargeld und Schmuck von den ›Houses of Holy« in die Zentrale zu transportieren. Ab und zu verging einer der Transporte in den orangeroten Strahlen der Invasoren, aber bei der Menge, die im Spiel war, spielte das kaum eine Rolle.
Der Guru wusste: Irgendwann endete jede Invasion, jeder Krieg. Und wie bei jedem Krieg würde es auch nach diesem genug Überlebende geben, die alles verloren hatten und die bereit waren, für ein Stück Brot, eine warme Mahlzeit, eine Flasche billigen Fusels oder eine Frau das zu tun, was man von ihnen verlangte.
Alles zu tun.
Guru Ruang Talok lehnte sich in seinem Sessel aus Krokodilleder zurück. Seine Finger spielten mit der schweren, diamantenbesetzten Goldkette, die um seinen Hals hing.
Er war zufrieden.
Und er hatte große Pläne!
9.
Donnerstag, 4. Oktober 2063, 20:54 Uhr Neapolitaner Zeit.
Die gleichzeitig mit der erneuten Verdoppelung von Lino Frascati vor fast genau vierundzwanzig Stunden ›entstandene‹ Felicitas hatte sich in einem kleinen Raum in der Nähe des B-Labors, in dem die Empfangsstation des Versuchs-Star-Gates untergebracht war, verkrochen. Sie war müde und hungrig.
Und sie hatte Angst.
Als sich die Tür des engen, dunklen Raumes, in dem sie mit dem schlafenden Zweibeiner eingeschlossen gewesen war, endlich geöffnet hatte, war davor ein anderer Mensch gestanden, der ein großes, blitzendes Messer in der Hand gehalten hatte.
Und offensichtlich hatte er mit diesem großen, blitzenden Messer auf sie gewartet!
Noch niemals , seit sie bei Volpone lebte, hatte es irgendeiner der Zweibeiner gewagt, sie auch nur schief anzusehen. Und nun wurde sie bedroht ! Mit einem großen, blitzenden Messer !
Da es keinen anderen Ausweg gab, blieb ihr nur die Flucht nach vorne. Sie spannte ihren Körper und duckte sich gleichzeitig, um die größtmögliche Energie in den folgenden
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